Schon im
Jahr 2012 und lange zuvor war ich zu der Erkenntnis gekommen, dass man sich nicht dafür schämen muss, ein Deutscher zu sein. Im ähnlichen Sinne kann ich eine Episode aus dem Jahr 1988 interpretieren.
In der DDR-Zeit hörten wir fast den ganzen Tag lang den Sender Deutschlandfunk. Er hat uns wirklich viel gegeben. Das ging für mich so weit, dass ich die 2 Stunden Aufenthalt in Köln, die ich damals anlässlich eines Verwandtenbesuchs verbrachte, nicht dazu nutzte, um den Kölner Dom anzuschauen, sondern zum Raderberggürtel fuhr, um mir ehrfurchtsvoll das Gebäude des DLF von außen und von innen zu beschauen.
Wenn ich jetzt, selten, eine Sequenz aus dem DLF höre – über den ich zwischenzeitlich die Redewendung benutzte ´Der Deutschlandfunk macht seinem Namen alle Ehre!` (stimmt bis heute), dann kommt mir in den Sinn, dass ich eine Zeit lang gesagt habe: ´eine Deutsche zu sein schäme ich mich nicht, aber dass ich damals in den zwei Stunden den DLF besuchte, dafür schäme ich mich´. Inzwischen schäme ich mich nicht mehr, das war damals noch ein ganz anderer DLF, gute Leute gab es bei ihm immer.
(Manchmal mache ich die Bemerkung: Früher berichtete DLF (u.a.) in Nachrichten in 5 Minuten, was auf der Welt passierte. Danach bekamen sie es schon fertig, in 5 Minuten die Geschehnisse auf der Welt zu interpretieren. Jetzt wollen sie in 5 Minuten die Welt gestalten – in ihrem Sinne)
Den Kölner Dom hätte ich mir sicher in den zwei Stunden auch sonst nicht angeschaut.
Möglicherweise wäre ich spazieren gegangen und hätte mir die Leute betrachtet. Wenn es damals allerdings schon
die „Kölner Klagemauer“ gegeben hätte, dann hätte ich sehr genau hingesehen und vielleicht auch etwas unternommen. Das hat zum Glück Gert Buurmann erledigt.
anne.c - 17. Dez, 09:29
Mein Leben lang habe ich von Juden gelernt. Nebensächliches, Wesentliches; oft beiläufig, ein wenig in Gesprächen; bei Vorträgen, Diskussionen, in Büchern; beim Lesen des Alten Testaments, wenn man es genau nimmt auch des Neuen Testaments.
Die kleine Begebenheit, die ich schildern möchte, erlebte ich auf meiner ersten Israelreise 1993. Im Norden, in einem Kibbuz bei Kirjat Shmona, war unsere Reisegruppe gelandet. Ich hatte vor, meinen Freund Yakov, den ich schon in der DDR-Zeit kennen gelernt hatte, ca. 100 km weiter südlich in seinem Kibbuz zu besuchen. Mit einem Kibbuzbus, der Leute in die Stadt beförderte, war ich in Kirjat Shmona angekommen und wollte nun mit einem Überlandbus nach Süden fahren. Leider hatten meine schon welterfahrenen Pfarrfrauenbegleiterinnen mich vorher mehrmals davon abgehalten, D-Mark in Schekel umzutauschen, weil immer, wenn ich es versuchen wollte, der Umtauschkurs ungünstig gewesen wäre. In Jerusalem war es mit D-Mark kein Problem gewesen, deshalb wollte ich im Bus jetzt mit D-Mark bezahlen. Hier aber wusste der Fahrer damit nichts anzufangen. Mit mir war in den Bus eine Gruppe junger Soldaten eingestiegen, die ich nicht beachtet hatte. Auf einmal hörte ich ein Klimpern, und der Bus fuhr samt mir ab. Pünktlich traf ich an der Kibbuzhaltestelle ein. Ich sehe noch den kleinen, nicht jungen Yakov vor mir, wie er da stand um mich abzuholen und dazu extra aus seinem baumbeschattenen Kibbuz in die pralle Sonne zur Landstraße gegangen war.
Später erzählte ich ihm von meiner Verlegenheit im Bus, und er sagte streng: „Etwas Geld muss man immer bei sich haben, für das Allernotwendigste“. Viel später erst wurde mir bewusst, dass das Klimpern im Bus daher rührte, weil die Gruppe der Soldaten blitzschnell eine kleine Sammlung für mich veranstaltet hatte; um einer in Ungelegenheit geratenen Passagierin zu helfen. Nachdem ich das erkannt und Yakov mir auch schon seinen Ratschlag geben hatte, dachte ich: ´Um Himmelswillen, dann hätte ich ja dieses schöne Erlebnis in Kirjat Shmona nicht gehabt!´ Aber ein bisschen Kleingeld habe ich doch jetzt immer bei mir.
anne.c - 14. Dez, 15:32
Von dieser Frau, die uns mit ihrer sehr einfachen robusten Lebensweisheit viel für unsere junge Ehe mitgegeben hat, und in deren Stube unsere Kinder sozusagen aufgewachsen sind, möchte ich noch eine Geschichte erzählen.
Areligiös war sie, wie hier in dieser spätchristianisierten Gegend fast jeder - Kirchenmitglied selbstverständlich. Die Nachmittage verbrachte sie oft mit ihrer „Feindfreundin“, wobei sie plattdeutsch miteinander sprachen und Ereignisse aus dem Ort austauschten. Später sprachen sie nicht mehr miteinander, und einmal nannte sie sie sogar ´die Kanallje!`
Nur noch einmal habe ich sie außer im vorher geschilderten Blogbeitrag weinend angetroffen: Nachdem "die Kanallje“ gestorben war, saß unsere Hausbewohnerin weinend auf ihrem Sessel. Sie hatte erfahren: die Söhne der „Kanallje“ hatten sie nicht im Sarg begraben, sondern einäschern lassen, und sie wusste, dass diejenige das auf keinen Fall so gewollt hatte. Dass es ihr später ebenso ergangen ist, konnte sie zum Glück damals noch nicht wissen.
anne.c - 11. Dez, 15:27
Die Vergangenheit lässt einen denkenden Menschen nicht los. Ich habe den Eindruck, je länger sie her ist, desto weniger lässt sie los. Jeder reagiert auf seine Weise darauf. Die einen lesen Bücher, manche auch Verschwörungstheorien. Die einen forschen, erinnern, legen ihre politische Ausrichtung so oder so fest. Andere sagen: „Ich will das nicht mehr hören!“ und hören umso genauer hin. Manche lernen bei der Vorbereitung auf das Verlegen von Stolpersteinen Nachkommen der in den Stein Geprägten kennen und haben eindrückliche Begegnungen. Manche kämpfen dafür, dass es den Staat Israel gibt, manche wünschen seine Vernichtung. Es ist die Entscheidung jedes Einzelnen und die Entscheidung der Gesellschaft, wie das, was man Vergangenheitsbewältigung nennt, betrieben wird.
Ich möchte von einer rührenden Art der Vergangenheitsbewältigung erzählen, die ich vor gut 40 Jahren erlebte. Lange lebte ich mit einer Frau, Jahrgang 1902, in einem Haus. Ihr Lebensradius war so gering, dass man sich das heute gar nicht mehr vorstellen kann. Mit Juden kann sie höchstens zusammengetroffen sein, wenn sie in der nächsten Kleinstadt mal ein Geschäft besuchte. Aber selbst in ihr entlegenes Dorf drang das, von dem man bis heute noch sagt: ´ Wir haben nichts davon gewusst! ´ Denn sie erzählte mir manchmal, wie ihre Mutter, noch zu Kriegszeiten, gesagt hatte: „Die armen Leute!“
Ihr Tagesablauf war stereotyp pünktlich. Um 17 Uhr wurde der Fernseher angemacht, Abendbrot gegessen, unsere Kinder spielten noch bei ihr, und dann sah sie bis ca. 22 Uhr Fernsehen und ging ins Bett. Manchmal kam ich in ihre Stube, und sie weinte. Dann wusste ich: Es war wieder etwas mit Juden im Fernsehen gewesen. Sie saß auf ihrem Sessel und schluchzte nur vor sich hin und stammelte: „Das war das Schlimmste, was Hitler gemacht hat!“
anne.c - 9. Dez, 22:40
Ja, nichts überzeugt so wie die Wirklichkeit, und darum bilde ich mir meine Meinung möglichst aus dem eigenen Erleben.
So ging ich jahrzehntelang zu einer sehr netten Frau aus dem Ort zu einer kosmetischen Behandlung, die sie in ihrer Wohnung durchführte. Wunderbar war es, wir plauderten die ganze Zeit dabei. Genauso zugewandt, wie sie sich mit mir über alles Mögliche unterhielt, so unterhielt sie sich mit anderen Frauen über Prinz Charles und Diana und die letzte Fernsehsendung. Mir erzählte sie gern über ihre Reisen, die sie nach der Wende ausgiebig mit ihrem Mann unternommen hatte. Einmal, als sie in Ägypten waren, sind sie durch einen Zufall nach Israel geraten. (Es war die Zeit nach „Oslo“ und vor dem ausufernden Terrorismus). Jedenfalls sind sie mit einem tollen deutschsprechenden Wüstenranger in Kontakt gekommen, nach meiner Erinnerung hieß er Alfonso. Sie hatten ihn für eine eintägige Wüstentour gebucht, und es war einer der schönsten Tage auf allen ihren Reisen gewesen. Seitdem schwärmte sie von Israel, und immer wieder mal kamen wir darauf ins Gespräch. Dann wurden wir älter, das Reisen wurde seltener. Eines Tages, wieder beim Plaudern, sagte sie unvermittelt und in bösem Ton: „Na, wie die da in Israel die Siedlungen bauen, was die da schon wieder in den Nachrichten gebracht haben!“
Es war nicht die Gelegenheit, das für und Wider zu erläutern, über Hintergründe aufzuklären und schon gar nicht, um mit meiner lieben Bekannten in einen Streit zu geraten. Ich sagte: „Na, Häuser bauen ist nicht so schlimm, wie Menschen umzubringen, und in den Häusern können ja – wenn ein Staat entstanden ist – auch Palästinenser wohnen. (Dass vielleicht auch Juden in einem wann immer entstehenden Palästinenserstaat wohnen dürften, davon geht ja niemand aus, und es wäre auch zu schwierig, über so etwas zu diskutieren). Sie ließ sich tatsächlich von meinem Argument überzeugen. Inzwischen ist die Zeit darüber hinweg gegangen.
anne.c - 4. Dez, 19:56
Vor Kurzem besichtigte ich zum ersten mal im Leben eine KZ-Gedenkstätte. So oft bin ich die E 96 von und nach Berlin gefahren: in der Jugend unzählige Male getrampt, in letzter Zeit immer mal mit dem Auto. Die Hinweise auf die Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg und Ravensbrück bei Fürstenberg gab es schon immer. Allerdings, wenn man unterwegs ist, unterbricht man die Reise nicht gern, und so hatte ich nie die Gelegenheit wahrgenommen, mich dort umzuschauen.
Jetzt hatte ich genügend Zeit, und so fuhr ich zur KZ-Gedenkstätte Ravensbrück, die am Rand von Fürstenberg zwischen See und Wald gezwängt, fast malerisch da lag. Es war ein normaler Dienstag Nachmittag, kein Gedenktag weit und breit, und so befand ich mich ganz allein auf dem großen Lagerplatz. Die Insassen des einen Reisebusses, der auf dem Parkplatz stand, waren wohl irgendwo in den Ausstellungsräumen. Der Lagerplatz war vollkommen leer, einige Baracken säumten den Rand. Auf dem leeren Platz gab es Tafeln, die auf die früheren Gebäude und Gegebenheiten hinwiesen. Einige Informationsstelen und Skulpturengruppen in der Nähe des Eingangs belebten die recht eindrucksvolle Öde. In einem Nebengebäude lag das große „Buch der Toten“ aus, in dem – gut gestaltet – die Namen aller in Erfahrung gebrachten Ermordeten alphabetisch aufgezeichnet waren. Ich suchte den Namen Milena Jesenská, tatsächlich, er stand genau an der richtigen Stelle.
Um mich in den Ausstellung- und Informationsräumen im Hauptgebäude umzusehen, fehlte mir die Zeit, aber ich studierte einige Stelen und eine kleine Ausstellung über die Geschichte des Lagers nach der Befreiung. An der Gestaltung der schriftlichen Zeugnisse und Darstellungen war zu erkennen, dass man sich große Mühe gegeben hat, die Geschehnisse rund um das Lager historisch genau zu erfassen und in einen Kontext zu bringen. Ganze Kommissionen von Historikern zeichneten sich verantwortlich, man hatte den Eindruck, dass um jede Formulierung gerungen worden war. Ich dachte: Fast alles weiß man, es ist erforscht und ausgewertet worden, jeder kann erfahren und wissen was er will und sich seine Meinung bilden. Also muss es nicht Unwissenheit, sondern gesellschaftlicher Wille sein, dass man täglich Entgleisungen erlebt oder zu hören bekommt. Hier gab es keinen Hinweis von Bischof Mixa, dass es in Israel ähnliche Lager gibt. Hier hat kein Kirchenzeitungsredakteur seinen Beitrag dazu gegeben, dass er sich dafür schämt, nicht übersehen zu können, dass die Nachkommen jener Ermordeten schlimme Taten begehen.
Fast mehr berührt als das Lager der Häftlinge hat mich ein anderes Lager. Wahrscheinlich weil es in meinen Vorstellungen von einem KZ nicht vorhanden war. Das war die pompöse Siedlung der SS-Mannschaften, fast ebenso groß lag sie direkt am See auf einer leichten Anhöhe behäbig über dem Häftlingslager. Der Kontrast beider sich gegenüber liegender Lager sagte viel aus, und er führt mir auch vor Augen, wie beim heutigen Gedenken die Häftlinge zwar als Projektionsfläche für alles Mögliche genutzt werden, die Täter aber als schemenhafte und namenlose, fast nicht vorhandene Gestalten in den Schatten gerückt werden. Hier war diese andere Seite nicht zu übersehen.
Am Ausgang erblickte ich, noch auf dem Lagergelände, in eine Ecke der Umzäunung platziert, eine große leere moderne Halle, wie eine Kaufhalle sah sie aus. Das also muss der Supermarkt gewesen sein, der in den 90-ger Jahren für Schlagzeilen sorgte, und dessen Eröffnung dann wohl doch die Demonstrationen der ehemaligen Häftlinge verhindert haben. Für den die Einwohner sich so vehement eingesetzt hatten, weil genau an seiner Existenz der Aufschwung von Fürstenberg hängen würde. Die die Meinung verkündet hatten, „nur wegen dem KZ“ würde nun der Fortschritt an ihrem Städtchen vorbei gehen müssen. An dieser abgelegenen Stelle der Stadt, die rundherum viele große Flächen und Supermärkte sowieso genug hatte. Ich glaube, das war für mich der stärkste Eindruck: Häftlings- und Bewachergelände bildeten ja irgendwie eine Einheit, aber der Anblick der leeren Kaufhalle in der Zaunecke, der hatte etwas Absurdes.
anne.c - 24. Nov, 22:10
Die Erlebnisse, die ich in diesem Blog schildere, sind aus dem eigenen Erleben oder aus dem meiner Bekannten. D.h., ich kann sie nicht wissenschaftlich belegen, ich bin keine Historikerin und habe keinen Zugang zu Akten und Archiven. Allerdings glaube ich, dass vieles, was in der DDR geschah, nicht in Gesetzesform gegossen war, vielleicht auch regional verschieden gehandhabt wurde.
Meine Bekannte erzählte mir vor Kurzem sehr anschaulich, wie ihr Sohn (Jahrgang 1975) in der dritten oder vierten Klasse für die NVA (Nationale Volksarmee) geworben wurde. „Zwei Lehrerinnen kamen zu uns, und wie die uns bearbeitet haben! Er hätte dann viel schlechtere Bildungschancen oder keinen Zugang zum Hochschulstudium. Und er müsse, wenn er studieren will, ja sowieso 3 Jahre zur Armee, da könnten sie doch schon jetzt die Entscheidung treffen“. Die Familie hat sich geweigert, die Entscheidung war ihnen zu weit reichend, und später wurde sie sowieso obsolet.
Die Hypothese, dass man nur studieren darf, wenn man sich für eine 3-jährige Dienstzeit bei der NVA verpflichtet (im Gegensatz zum nur 1 1/2 -jährigen Pflichtwehrdienst), war allgemein verbreitet und wurde auch allgemein angewandt, jedenfalls für begehrte Studienrichtungen. Aber nicht immer. Ich kenne sogar Leute, die Medizin studiert hatten, trotz nur 1 ½ Jahre Armee. Es hing sehr vom Einzelnen ab, von seiner Durchsetzungsfähigkeit und Hartnäckigkeit. Manchmal hing der Zugang zum Studium auch nicht von der Wehrdienstdauer ab, sondern von der Bereitschaft, sich für bestimmte Dinge zur Verfügung zu stellen. Aber auch das musste nicht sein, man sollte immer den Einzelfall kennen.
Das übergroße Interesse, junge Leute in die Armee zu pressen, war allumfassend in der DDR. Da war der Wehrkundeunterricht, der ab 1978 allgemein und für jeden verbindlich in die Schulen eingeführt wurde. Auch da gab es einige Hartnäckige, oft aus christlichen Elternhäusern, die sich weigerten, daran teilzunehmen, und jeder hat dabei seine eigene, besondere Geschichte erlebt.
Studenten erzählten mir, mit welch Methoden Theologiestudenten genötigt worden waren, an der vormilitärischen Studentenausbildung teilzunehmen. Die Theologiestudenten, die damals für ihre Haltung „Friedenschaffen, ohne Waffen“ bekannt waren, wurden durch eine raffinierte Methode unlösbar mit den jahrgangsmäßig gleichen Studenten anderer Fachrichtungen verquickt, und nicht nur dass, sondern auch mit deren Karrierechancen, so dass ein anständiger Theologiestudent die vormilitärische Ausbildung nicht verweigern konnte, weil er anderen, ihm unbekannten Studenten damit schadete.
anne.c - 22. Nov, 17:47
Die gerichtliche Verurteilung fand in Rostock statt. Es war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Gerichtsverhandlung ohne Publikum stattfindet, die Urteilsverkündung musste aber öffentlich sein. Rechtsanwalt Schnur hatte erwirkt, dass die Mutter bei der Verhandlung anwesend sein darf. Wir anderen Angehörigen wollten zur Urteilsverkündung dabei sein. Die Verhandlung wurde auf den frühen Morgen gelegt, wohl in der Annahme, dass es schwierig wäre, ohne Auto so früh in Rostock zu sein. Wir waren pünktlich zur Stelle, mussten dann aber zur Kenntnis nehmen, dass das Gerichtsgebäude erst ab 10 Uhr für die Öffentlichkeit geöffnet war. Das hieß, wir hatten keine Chance, der Verkündung beizuwohnen, trotz gesetzmäßigem Anspruch.
„Er müsste doch gleich mit dem Transportauto gebracht werden. Komm, wir stellen uns an den Hintereingang“, sagte ich. Auch wenn die Methoden der Stasi sonst sehr ausgeklügelt waren, so war ein Gerichtsgebäude nicht so beschaffen, dass es hermetisch dicht war. Der verrumpelte Hinterhof lag ohne Zaun und Eingangstor offen da (vielleicht waren auch Zaun und Tor da, aber alles stand offen). Der Transporter kam auch sofort, und mein Bruder stieg in Handschellen gefesselt aus. Wir johlten und riefen: „Wir sind da, lass dich nicht klein kriegen“, und schon war er im Gebäude verschwunden. Wir wollten diese Zeremonie wiederholen, wenn er das Gerichtsgebäude wieder verlässt. Der Transporter wartete, jemand versuchte uns zu verscheuchen, was nicht möglich war, da wir auf offener Straße standen. Es fuhr ein weiteres Auto vor, und ich sagte: „Wenn sie ihn jetzt ´rausbringen, könnten wir ihn nicht sehen“, denn das Auto verdeckte genau die Lücke zwischen Tür und Transporter. Wir hörten eine Tür klappen, und uns wurde klar, dass dieses Auto genau zu diesem Zweck dorthin geordert worden war.
Der Transporter machte sich auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis zurück. Da saßen wir am längeren Hebel, denn der Ausgang des Gerichts mündete auf eine vielbefahrene Straße, und um diese Zeit war besonders viel Verkehr. Der Fahrer musste lange warten. Wir trommelten auf das Auto, riefen dem Gefangenen Mut zu und freuten uns über die Nervosität des Fahrers. Bald konnte er um die Ecke biegen, und bald kam auch unsere Mutter aus dem Gerichtsgebäude. Sie erzählte, dass M. wegen „versuchter Republikflucht“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde.
anne.c - 16. Nov, 21:53