Mittwoch, 11. November 2020

Geschichten aus der DDR: Wie die Stasi und ich uns gegenseitig austricksten

Es ist noch nicht lange her, da wurde meine alte Mutter ins Kino eingeladen in den Film „Das Leben der anderen“. Ich habe sie selten so wütend erlebt wie nach dem Film: „So ein Schund! So war die Stasi nicht, das hatte nichts mit der Stasi zu tun, ich kenne die doch!“

Wir rekonstruierten die Zeit als mein Bruder M. zum Stasiopfer wurde. Mein 26-jähriger Bruder wohnte im Jahr 1980 in Ostberlin. Auf der Durchreise wollten wir ihn besuchen, fanden aber seine Wohnung von der Polizei versiegelt. Uns schwante nichts Gutes. Bald darauf wurde meine alleinstehende Mutter mehrmals von der Stasi wegen ihres Sohnes verhört. Sie hatte keine Angst vor der Stasi, bekam aber genügend Gelegenheit, sich mit deren Mentalität und Gepflogenheiten bekannt zu machen. Mein Bruder wurde wegen des Vorhabens der Republikflucht angeklagt. In Wirklichkeit hatte er keine konkreten Fluchtpläne, lebte aber ein unstetes Leben und gehörte zu der Sorte Mensch, die die DDR gern losgeworden wäre. Da war es sinnvoll, das Gute mit dem Nützlichen zu verbinden. Man verhaftete also so einen Menschen unter irgendeinem Vorwand und ließ ihn dann von Westdeutschland für viel Geld freikaufen.

Vieles, was die Stasi unternahm, war willkürlich, es lief aber alles formal nach bestimmten Gesetzlichkeiten ab. So fanden sich einige „gute Freunde“, die Spitzelberichte schrieben welche beinhalteten, dass mein Bruder und ein Kumpel mit einem langen Seil Lasso werfen geübt hatte, um mittels des Seils, das in Berlin von Osthaus zu Westhaus geschwungen werden sollte, von Ost nach West zu gleiten. Das war völlig verrückt, aber das Denken junger Leute in der DDR kreiste damals sehr um das Thema: `wie könnte ich „abhauen“?´ Die Übung hatte tatsächlich stattgefunden, und das Seil gab es auch. Die Beweislage musste zu einem gerichtsverwertbaren Prozess zusammen geschustert werden. Der Bruder saß 6 Monate in Stasiuntersuchungshaft, um dann nach einer Gerichtsverhandlung noch 4 Monate im „normalen“ Gefängnis zuzubringen. Anschließend wurde er in den Westen (für viel Devisen) abgeschoben.

(Lustig sind dabei Details: wie der Bus mit den etwas verlottert angezogenen Ost-Verlassenden einen Extrahalt einlegte, alle sich ihrer Kleidung entledigen mussten und in DDR-Dederonanzüge gesteckt wurden, damit man sieht, wie „anständig“ die DDR ihre Bürger ziehen lässt. Die Anzüge riefen bei ihren Trägern große Empörung hervor. Mein Bruder erzählte uns auch die Redewendung, dass man zu Gefangenen, die aus welchen Gründen auch immer, sich entschlossen hatten, doch im Osten zu bleiben, sagte: „Er macht den Zonenstich“, eine Metapher die bald in unseren Sprachschatz einging).

(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 5. November 2020

„Der Sozialismus ist allmächtig, weil er wahr ist“

Am Ende des kleinen Parks in unserer Nähe stand über viele Jahre ein Schild mit dieser Aufschrift. Warum es gerade an dieser unauffälligen Stelle stand, kann wohl niemand erklären. Ein Plakatmaler hatte es gemalt, es wurde aufgestellt, und danach wurde es von niemanden mehr beachtet. Von mir auch nicht, obwohl ich fast täglich an ihm vorbei ging. Ich hätte es wenigstens fotografieren sollen, damit man in späterer Zeit einen Beweis hätte, dass es einmal vorhanden war. Man hätte sich Gedanken machen können, was das Schild für eine Aussage hat: ´allmächtig, weil wahr´, scheint mir gedanklich nicht schlüssig. Ob Sozialismus oder auch nicht. Ich denke, Schilder jener Art sollten die Leute darauf hinweisen, dass man an vielen Stellen in diesem „allmächtigen und darum wahren“ Sozialismus mit Absurdem konfrontiert wurde, worüber man einfach nicht nachdenken sollte.

Auch stelle ich mir vor, dass im Laufe der Jahre einige Millionen Kinder mindestens einmal in der Woche, meistens öfter, laut ausgerufen hatten: „Immer bereit!“, wenn ihnen zuvor die Formel „Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“ vorgesagt, meistens vorgebrüllt, wurde. Ob diese jetzt Erwachsenen noch einmal daran denken? Und die vielen Jungs, damals in der vierten Klasse, die sich im Alter von 9 Jahren verpflichtet hatten, mit 18 Jahren für drei Jahre in die Nationale Volksarmee einzutreten. Ob sie manchmal an diese Verpflichtung denken? Um die Verpflichtung von Kindern für die Nationale Volksarmee wurde ein ungeheures Theater veranstaltet. Jedes Jahr auf´s Neue mussten Klassenlehrerinnen Eltern aufsuchen, um sie zu überreden, ihrem 9-jährigen Jungen die spätere 3-jährige Verpflichtung zur Armee abzuringen. Sowohl Lehrer als auch Eltern nahmen die Prozedur ernst. Die Klassenlehrerin musste nachweisen, dass ein gewisser Prozentsatz der Jungs sich verpflichtet hatte. (Ich denke, so 20 % waren angepeilt). Die Eltern schafften es meist erfolgreich, sich dagegen zu wehren, entweder mit Ausreden, Hinhalten oder auch mit einer heftigen Auseinandersetzung. Dass so eine Verpflichtung selbst im allmächtigen Sozialismus rechtlich nicht bindend sein konnte, wussten sowohl Lehrer als auch Eltern, trotzdem wurde das Spiel von den meisten mitgespielt. Ein gewisser Prozentsatz derjenigen, deren Eltern unterschrieben hatten, fühlte sich vielleicht später für eine Armeeverpflichtung genötigt. Und wenn nicht: der Klassenlehrerin war es vollkommen egal, sie war ja nicht mehr zuständig. Trotzdem war es ein wichtiges Ritual, pünktlich zu Ende der vierten Klasse eine gewisse Anzahl Armeeverpflichtungen nachweisen zu müssen.

Die Armeeverpflichtung 9-jähriger Jungs war ebenso absurd wie das Aufstellen von Schildern mit leeren Parolen. Das Leben in der DDR war durchzogen von absurden und leeren Ritualen und Parolen. Sinnlos waren sie nicht, denn sie hatten den Zweck, unbotmäßige Menschen auszusortieren. „Feinde des Sozialismus“ gaben sich etwa zu erkennen, indem sie ein Schild abmontierten oder beschmierten (in solchen Fällen lief die Fahndung auf höchsten Touren), und wenn man den Feind entdeckte, so hatte man wieder einmal beweisen können, dass der Sozialismus allmächtig ist.

Dienstag, 20. Oktober 2020

Wo treffen die Terrororganisation Hizbollah und das „Deutsche Pfarrerblatt“ aufeinander?

Es muss geistige Bezüge zwischen der Hizbollah und der Redaktion des Deutschen Pfarrerblattes geben, denn sonst hätte sich die Terrororganisation nicht die Mühe gemacht, ausgerechnet einen Artikel dieses Blattes auf ihre Internetseite zu stellen. Der legendäre Artikel des legendären Alt-Testamentlers, Dr. Vollmer, hatte vor 9 Jahren für viel Aufregung gesorgt und auch eine heftige Kontroverse hervorgerufen. Für mich war es der Anlass, dieses Blog zu beginnen. Der Artikel ist eine einzige Schmähschrift auf den Staat Israel. Wer den Artikel von Dr. Vollmer noch einmal lesen möchte, kann dies auf der deutschsprachigen Internetseite der Terrororganisation Hizbollah nachlesen.

Dem Deutschen Pfarrerblatt ist zuzugestehen, dass es mehrere theologische Experten zu Wort kommen ließ, die kontrovers zu Dr. Vollmer reagierten, und diese Reaktionen wurden wiederum nicht auf der Internetseite der Hizbollah wiedergegeben. Trotzdem: Der Geist war wieder einmal aus der Flasche gekommen. Im Geist der Hizbollah spukt er weiter. Und in den Geistern mancher Pfarrer und Bischöfe spukt er weiter, indem sie z.B. durch die Lande ziehen und Vorträge halten, , die zum Ausdruck bringen, dass „Gott sich nicht an ein Territorium bindet“, „dass Land keine Erlösung bringt“ und dass es Menschen gibt, die einer „Überidentifizierung mit dem Holocaust“ erliegen. Kurz gesagt: dass Juden in Israel nichts zu suchen haben.

Mittwoch, 14. Oktober 2020

Verschwörungstheoretiker: „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“

In einem Kurort in unserer Gegend wird jährlich eine Buchmesse veranstaltet, bei der regionale Verlage ihre Neuerscheinungen und in der Region ansässige Schriftsteller ihre Werke vorstellen. Es war im Jahr 2011, als ich mir das Programm ansah. Ein junger Schriftsteller, Sohn eines in der DDR populären Verfassers von Politthrillern, hatte die Ereignisse rund um den 11.9.2001 recherchiert und gab sie hier der Öffentlichkeit unter dem Titel "Inside 9/11" bekannt. Ein junger Mann von hier, Sohn unserer Landschaft, in diesem Metier! Die Lesung wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich fuhr früh los, damit ich rechtzeitig einen Sitzplatz bei der Lesung bekomme. Ich hatte dann aber Schwierigkeiten mit dem Parkplatz und traf erst minutengenau in der Messehalle ein. Es war das verlängerte erste Oktoberwochenende. Im Ort wimmelte es von Menschen. Ein Künstlerort. Dementsprechend wirkte das Publikum. Künstler, Kunstinteressierte oder Menschen, die sich gern im künstlerischen Flair bewegen.

Die Messehalle hatte einen kleinen abgetrennten Raum für Lesungen. Ich fragte am Einlass, ob die Veranstaltung hier stattfindet und ob man Eintritt zahlen müsste. Die Dame dort sagte etwas verlegen: „Eigentlich ja….., aber setzen sie sich doch einfach da hin“. In einer Stuhlreihe saßen drei Personen, die unschwer als Angehörige des jungen Schriftstellers zu identifizieren waren. Und nun noch ich. Der Schriftsteller Paul S. kam. Er überlegte, ob er überhaupt anfangen solle. Dann trafen aber noch zwei Ehepaare ein, und so fand die Lesung statt.

Paul S. betonte, dass er keinesfalls eine Verschwörungstheorie zum 11.9. hätte. Er hätte nur Fakten zusammengetragen, und die Schlüsse daraus solle jeder für sich selbst ziehen. Man muss es Paul S. zugestehen, dass er recht gute rhetorische Fähigkeiten hatte. Die Lesung, die hauptsächlich die Lebensläufe von Donald Rumsfeld und Dick Cheney umfasste, und ihr Zusammenwachsen zu einer Art Connection in engster Verbindung mit der amerikanischen Öl- und Rüstungsindustrie war außerordentlich langweilig, und trotzdem las er so gut, dass man nicht einschlief und sogar ein wenig mitdenken konnte. Es gab deutliche Hinweise, dass seit Jahren darauf hingearbeitet wurde, in den USA eine Situation zu schaffen, die es ermöglichte, die Verfassung außer Kraft zu setzen. Ebenso war eine deutliche Linie zu erkennen, Vorwand für einen Krieg zu schaffen, damit die entsprechenden Industrien zum Zuge kommen können. Dass in solch einer Situation billigend der Tod vieler eigener Leute in Kauf genommen würde, hätte Tradition, denn so wäre es damals 1941 in Pearl Harbour auch gewesen, als der amerikanische Präsident schon im Vorherein vom Angriff der Japaner gewusst hätte, aber den Überfall als guten Anlass ansah, seinem „kriegsmüden“ Volk ein wenig auf die Sprünge zu helfen, was wiederum der Rüstungsindustrie auf die Sprünge half. Ob sowohl Pearl Harbour als auch 9/11 von den Amerikanern selbst erdacht und ausgeführt worden war, blieb unklar, denn das Motto der Schriftstellerlesung war: „Man kann es so sehen, man kann es aber auch so sehen, und seine Meinung muss sich jeder selbst bilden.“

Diese zweideutige Aufforderung wurde in der anschließenden Diskussion gern aufgenommen. Diskussion ist übertrieben, denn lediglich ein Mann aus der kleinen Besucherschar stellte sich als redseliger Experte heraus. Es war ein älterer korpulenter Herr, der sich schwer auf seinen Stock stützte, gekleidet in eine Art Rangeruniform mit einem Käppi auf dem Kopf, das unerklärlicherweise einen Anstecker mit einer britischen Flagge hatte. Es war ein Fachgespräch unter Gleichrangigen. Die Fakten flogen einem nur so um die Ohren: Flughöhen, Flugwinkel, Uhrzeiten……. Ein Stichwort gab das andere: „Kennen sie auch Andreas von Bülow?“ „Selbstverständlich. Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Unter Helmut Schmidt“. Das Gespräch war fast emotionslos, dafür aber sehr intensiv. Der korpulente Herr äußerte lediglich Bekümmerung über sich selbst. Denn er hätte so viel überlegt um seine eigenen Vermutungen zu entkräften, aber es wäre einfach nicht anders möglich. „Niemals hätte ein Fluganfänger diesen Winkel fliegen können…..“ und: „ 9.24 Uhr!! Das wäre doch absurd, dass Al-Quaida Interesse am Tod der vielen kleinen Leute gehabt hätte. Die hätten doch das Finanzkapital treffen wollen, und die ganzen Juden kamen doch erst nach 12 Uhr in ihre Büros!“ Paul S. hielt sich bedeckt, und wiederholte seinen Spruch: „Man kann es so sehen, …..“

Wohl wissend, dass es nach einer solchen Veranstaltung – egal wie sie verlaufen würde – nichts Schöneres geben kann als ein entspanntes, und nur privates Gespräch unter angenehmen Menschen, hatte ich mich anschließend bei Freunden zum Kaffeetrinken eingeladen. Der Kaffeetisch war schon gedeckt. Die einzigen Sätze, die dabei über die nachmittägliche Veranstaltung fielen waren: Ich hatte meine Verwunderung darüber geäußert, dass keine Einwohner des Ortes gekommen waren. Ich erhielt die Antwort: „Ach, die S., die sind hier im Ort sehr unbeliebt. Zu denen geht von uns keiner“.

Sonntag, 4. Oktober 2020

Anschwellende und wieder abflauende Diskussionen (Teil 2)

Vorläufige Beruhigung in die Versammlung brachte ein Ehepaar, das, angeregt von diesem Thema, über eine Lesung des Schriftstellers Chaim Noll, er ist der in Israel lebende Sohn des in der DDR sehr bekannten Schriftstellers Dieter Noll, berichtete. Aufmerksam geworden durch eine Zeitungsnotiz, waren sie zu einer Lesung von Chaim Noll gefahren und waren sehr befremdet über das, was sie dort erlebt hatten. Dass der Sohn von Dieter Noll s o aussehen konnte! Wie ein streng gläubiger Jude! Vor meinen geistigen Augen sah ich einen Menschen mit Schläfenlocken und Kaftan und war sehr erstaunt, als ich später im Internet das Foto eines ganz normalen Mannes sah. Das einzig ´Jüdische´ an ihm war eine Kippa. Sein Bart war kurz, nicht länger als Bärte, wie sie auch hier Männer tragen, seine runde Brille war so, wie sie hier in den 70/80-ger Jahren oft getragen wurden. Dieser Habitus hatte das Ehepaar schockiert, und die Lesung ebenfalls, denn er hatte über ein Selbstmordattentat in Israel gelesen. Selbstmordattentate von Palästinensern gab es gerade in jener Zeit in großem Ausmaß mit vielen Toten und Verletzten. Ich fragte, warum Herr Noll nicht über etwas hat lesen sollen, was er selbst erlebt hat. Eine direkte Antwort darauf bekam ich nicht, man hörte heraus, dass sich so eine Lesung nicht gehöre. Das sagten auch andere Teilnehmer. So bekam ich z.B. Antworten wie: „er hätte z.B. über den Frühling in Israel oder die Liebe eines Palästinensers zu einer Israelin“ lesen können. Warum gerade darüber? So etwas sollte man nicht ergründen wollen. Ich wunderte mich nicht über Konfusion und Aufregung, denn ich hatte die Erfahrung gemacht, dass solcherlei Diskussionen um Juden wie aus heiterem Himmel entstehen, sich wie ein plötzliches Gewitter entfalten und etwas verlegen wieder in sich zusammensinken. Beim genauen Hinsehen kann man meistens doch einen Menschen als Ursache entdecken, in diesem Fall diejenige, die das Buch als Diskussionsgrundlage ausgewählt hatte

(In einem anderen Fall, den ich beschrieb, war es ein ehemaliger Verfassungsrichter, den man bei jeder Tagung, die mit Antisemitismus zusammenhängt, antreffen konnte, und der dabei jede Gelegenheit nutzte, ungefragt Vorträge über das „Unrecht der israelischen Besatzung“ zu halten, und der gleichzeitig – öffentlich – sagte, dass nichts ihn so sehr im Leben beschäftigt hat, wie der Gedanke an den Holocaust.)

Der Abend ging friedlich zu Ende. Da es keine These gab, die zu widerlegen oder zuzustimmen war, musste es auch keine Einigung geben, das Gespräch flaute einfach ab. Die folgenden Literaturabende verliefen friedlich, vielleicht weil in guter Absicht kein israelischer Schriftsteller mehr ausgesucht wurde.

Montag, 28. September 2020

Anschwellende und wieder abflauende Diskussionen (Teil 1)

Es mag etwa 15 Jahre her sein, als sich in einer Stadt ein Literaturkreis gründete. Eine neu hinzu gezogene Frau wollte das kulturelle Leben der Stadt etwas bereichern (fast immer sind es die neu Hinzugezogenen, die solcherart Initiativen ergreifen), und warb in der Lokalzeitung um Teilnehmer für so einen Kreis. Ich dachte, es könne nicht schaden, wenn ich erfahre, was die Leute lesen und was sie darüber denken, und so wurde ich zu einer der ersten von anfangs zahlreichen Teilnehmern. Der Kreis bestand über lange Zeit. Die Entwicklung von einem offenen Kreis mit ´gehobenem Anspruch´, bei dem sich die Zahl der Teilnehmer nach und nach sehr reduzierte zu einer gemütlichen, festen und geschlossenen Truppe, wo man sich nach einem ausgiebigen Kaffeetrinken erzählte, was jeder so in letzter Zeit gelesen hat, wäre einer Erzählung Wert. Ich habe es nicht bereut, in jeder Phase dabei gewesen zu sein. Der Kreis hat mir sehr viele Eindrücke beschert.

Ob sich die Diskussion, von der ich erzählen möchte, am ersten oder an einem der folgenden Literaturabenden zutrug, weiß ich nicht mehr. Konzipiert waren die Literaturgespräche so, dass alle Teilnehmer, jeder für sich, ein bestimmtes Buch liest, und man beim nächsten mal darüber gemeinsam diskutieren sollte. Für den ersten oder zweiten Abend war das Buch „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amoz Os vorgeschlagen. Ob es Zufall war, dass der Vorschlag von einer Frau kam, die sich im Verlauf der Jahre als eiserne Palästinenserfreundin, und – man kann schon sagen -, Israelfeindin herausstellte, weiß ich nicht, aber es gibt auch unbewusste Zufälle. Das Buch - es trägt autobiographische Züge -, handelt von der tragischen Kindheit des Protagonisten. Die stand neben dem Selbstmord der Mutter im Zeichen der Gründung des Staates Israel und des unmittelbar darauffolgenden Angriffs arabischer Staaten auf Israel. Etwa die Hälfte der Leser konnte mit dem Buch nicht viel anfangen, da sie zu wenig geschichtliches Wissen über jene Ereignisse hatte. Manche Leute fanden das Buch als Roman spannend und ergreifend. Es kam jedenfalls eine rege Diskussion zustande. Mit Tuvia Tenenbom würde ich sagen: „Ich kann es gar nicht begreifen, dass wir schon wieder bei den Juden sind!“

Es kam, wie es kommen musste: Kein Jude war anwesend, aber der Kreis von gut meinenden und selbstgerechten Deutschen redete sich in Rage. Hier gab es, im Gegensatz zu politisch korrekt organisierten Vorträgen keine haarscharfe Trennung zwischen `Juden` (über die man in getragenem Ton redet, etwas verlegen und: es war schlimm, damals!) und `Israeli´ (über die man sehr genau viel Nachteiliges und Böses weiß). Es geriet alles durcheinander. Ich glaube, die meisten waren sich nicht einmal bewusst, was sie sagten, denn ich hörte neben mir eine Frau sagen: „Ja, ich weiß auch nicht, warum die Juden für uns so ein rotes Tuch sind, wie sie da mit ihren Schiffen in´s Land eingefallen sind!“ Es gab kein gegenseitiges Antworten oder Argumentieren, es war mehr eine allgemeine Aufregung.
(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 20. September 2020

Eine interessante Episode

erlebte ich nach meiner Ukrainereise, die ich 2019 beschrieb. Auf solchen Studienreisen ist es üblich, dass man sich im Voraus für die Reise auf das „Du“ einigt, und dass man unverbindlich und kameradschaftlich miteinander umgeht. Die Kontakte halten nach der Reise in der Regel nicht lange, da neue Reisen und Reisebekanntschaften stattfinden. Doch oft tauscht man untereinander noch Fotos und Erinnerungen aus.

So bekam ich ein halbes Jahr nach meiner Reise von einem Mitreisenden ein paar Fotos, auf denen ich zu sehen war, zugeschickt. Als Dank schickte ich ihm meinen 18-seitigen Ukrainebericht, und etwas übermütig schrieb ich dazu: „In Gedanken habe ich dich damals ´den Landser` genannt. Du bist zwar zu jung, um als junger Mann in der Ukraine gewesen zu sein, aber ich hatte so das Gefühl, du könnest auf den Spuren Deines Vaters gewandelt sein“. Darauf bekam ich eine E-Mail mit nur einem einzigen Satz zurück:

In Deinem Reisebericht ist ein Foto zu sehen, wo ich in der Synagoge sitze ("Roman Trachtenherz erklärt das jüdische Gemeindeleben"). Wenn es geht, so schicke mir das Foto gelegentlich per Mail.



Das hat vielleicht nicht viel zu bedeuten, vielleicht aber doch, und interessant ist die Korrespondenz allemal. Bekommen hat er das Foto selbstverständlich und dazu auch alle anderen Fotos, auf denen er zu sehen war.

Montag, 14. September 2020

Was haben SS-Runen und der Leidensweg Christi gemeinsam? (Teil 2)

Die Auflösung der Frage in der Überschrift ist einfach: sowohl SS-Runen als auch eine eindrucksvolle Folge von Fresken, die Jesu Leidensweg darstellen, sind friedlich im Raum der Peterskirche Lindau unter einem Dach vereint. Je nach Betrachtung könnte man sie als Einheit oder als Verbindung von Gegensätzen empfinden. Worin die Tätigkeit von SS-Männern bestand, kann man in der Literatur über Judenvernichtung, über Mord und Barbarei in besetzten Ländern erfahren, sie muss also nicht näher beschrieben werden.

Ich gehe davon aus, dass diese Zusammenstellung von Bildern und Symbolen nicht vielen Menschen auffällt, meine Begleiterinnen waren davon jedenfalls nicht berührt (nur die Bilder Jesu leidvoller Passion berührten sie). Trotzdem denke ich, dass die Selbstverständlichkeit einer solchen Zusammenstellung unbewusst in den Geist der Menschen eingeht. Schon dass es „normal“ wäre, die älteste und wie man sagt, die schönste der Lindauer Kirchen als Kriegergedenkkirche herzurichten, und solch eine Gedenkstätte in engen Zusammenhang mit der Passionsgeschichte zu stellen, spricht für sich. Über den riesengroßen ruhenden Soldaten stolpert man ja beim Hineingehen fast, bevor man ins Halbdunkel zu Holbeins Fresken gelangt.

Da man in einer Kirche, laut dieser und jener medialen Aussage „zur Besinnung kommen“ oder „Spiritualität pflegen“ soll, machte ich den Versuch, mich diesem Thema spirituell zu nähern: Bedeutet Passion in Verbindung mit Kriegergedenken: Jesus ist auch für jene Soldaten und SS-Männer am Kreuz gestorben? Die Anmerkung der Stadt Lindau, dass wir nicht zu richten haben, bedeutet möglicherweise: Vielleicht haben die Genannten ihre Taten bereut – man kann ja nie wissen?

Selbst den getöteten Lindauer Juden wurde das Gedenken zugestanden (allerdings erst ab 1981), was ja auch seine gedanklichen Tücken hat. Denn wie die Kirche seit ca. 2000 Jahren verkündigte, waren es Juden, die Jesus gekreuzigt haben. Selbst wenn das nicht der Wahrheit entspricht, es wurde aber immer kolportiert, unzählige Juden sind im Lauf der Geschichte dafür verbrannt und anderswie getötet und vertrieben worden. (Ich selbst war dabei, als eine junge mecklenburgische Pastorin bei einer Tagung der Jüdin Ruth Lapide offen ins Gesicht sagte: Die Juden haben Jesus gekreuzigt!) Gedenktafeln für jüdische Lindauer (man bezeichnete sie als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft) neben dem Passionsweg, Heiligenscheine auf den prachtvollen Fresken und Gemälden noch und noch, dazu auf Kriegertafeln der Vermerk von Offiziersrängen, einschließlich SS-Runen, die älteste Kirche von Lindau birgt schon eine aussagekräftige Diversität.

Mir fielen die Märchen und Legenden ein, wo man einem wunderschönen Menschen begegnet und mit ihm eine Strecke gehen soll, und auf einmal entdeckt man, dass unter seinem Mantel ein Pferdefuß hervor zu sehen ist.

Im Luftreich des Traums

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