Dienstag, 10. Dezember 2019

Westreisen - oder: wo warst du am 9.11.1989?

Der 30. Jahrestag des „Mauerfalls“ wurde - so wie andere „Großereignisse“ auch - mit großem Getöse medial vorbereitet, um sofort nach dem 9.11. ins Loch des Vergessens zu fallen. Ich hatte den Eindruck, dass in den öffentlichen Berichten nicht weiter gedacht wurde, als bis zu der Frage: „Wo warst du am 9.11.1989?“ – zu mehr reichte es nicht. Schon das ist ein Grund dafür, mich noch ein wenig mit diesem Thema zu befassen.

Was ich im Nachdenken a la „Ich hätte das nie für möglich gehalten!“ nie gehört oder gelesen habe, ist das Thema „Westreisen“, das ich für einen wesentlichen Rammbock in die Mauer halte. Schon in den 70-ger Jahren durften Angehörige unter bestimmten Bedingungen, etwa anlässlich des herannahenden Todes oder einer Beerdigung eines sehr nahen Angehörigen in des Westen reisen. Da man sich in den ca. 14 Jahren der hermetischen Abriegelung schon einigermaßen an diesen Zustand gewöhnt hatte, waren diese ersten Verwandtenbesuche Sensationen. Um ehrlich zu sein, so sensationell auch wieder nicht, denn Rentner durften schon seit den 60-ger Jahren in den Westen reisen, jede Menge „Konsumgüter“ mitbringen, die die DDR dann nicht zu produzieren brauchte und die Wunderdinge erzählen, die da zu sehen waren.

Mit den Jahren waren die Anlässe und der Verwandtschaftsgrad, der zu Westreisen berechtigte, beträchtlich ausgeweitet worden. Ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Die Leute standen in Grüppchen zusammen und erzählten sich: wer wo war, wer „heimlich“ noch eine zusätzliche Auslandsreise gemacht hat, besonders Auserwählte und Glückliche hatten die Berechtigung erhalten, mit dem Auto zu reisen, Vorgesetzte hatten die wirklichen Experten bei Dienstreisen ausgebootet. Dass die Sehnsucht, dort selbst einmal hinzureisen übermächtig wurde, ist gut nachzuvollziehen. Die Standfestigkeit der Bürger, zu ihrem Staat zu stehen, wurde sehr aufgeweicht.

Diese in manchen Gesellschaftsschichten schon fast routinemäßigen Reisen führten zu ebenso unerschöpflichen Überlegungen, ob der und der überhaupt reiseberechtigt gewesen wäre, warum der … und der nicht… Als ob die Gesetze der DDR in steinerne Gesetzestafeln gemeißelt gewesen wären.

Die Geschichten und Erlebnisse rund um die Westreisen bieten Stoff genug und könnten in die Überlegungen in den Mauerfall durchaus einfließen. Warum davon kaum die Rede war? Der Mythos muss bewahrt werden. Und: es kam wohl niemand darauf, weil alle beschäftigt damit waren zu überlegen: ´Wo bist du am 9. November 1989 gewesen?´

Donnerstag, 28. November 2019

Distanziert euch von euren Westverwandten!

In der DDR war es üblich, dass sich Menschen von ihren Verwandten distanzieren mussten. Auch Eltern von ihren Kindern und umgekehrt. Eine Gemeindeschwester berichtete mir erschüttert, wie sie bei einem Patienten, einem alten Mann ein Schreiben vorfand, worauf er bestätigte, dass er sich von seinen Söhnen, die in den Westen „abgehauen“ (das war die übliche Bezeichnung) waren, lossagt. In diesem Fall war das besonders makaber, da der Mann längst aus dem Arbeitsalter heraus war, also keine beruflichen Nachteile mehr erfahren konnte. Er war dazu genötigt worden, und so tat er es eben.

Wer beruflich Karriere machen wollte und nahe Westverwandte hatte, sollte oft unterschreiben, dass er mit diesen keinen Kontakt mehr haben wird. Gezwungen wurde dazu niemand. So kenne ich den Fall eines Betriebsleiters, der sich weigerte zu unterschreiben, dass er die Westgeschwister nicht treffen wird. Er blieb trotzdem Betriebsleiter. Später wünschte sich sein Sohn, zur See zu fahren. Menschen, die in der Seefahrt arbeiteten, hatten besonders strenge Auflagen, keine Westkontakte zu haben. Denn die Seefahrer hatten natürlicherweise mehr Möglichkeiten „abzuhauen“. Der Betriebsleiter wollte seinem Sohn keine Steine in den Weg legen und unterschrieb schweren Herzens die Distanzierung von seinen Westgeschwistern. (Dass der zu See fahrende Sohn unterschreiben musste, keinen Kontakt mit dem Westen zu haben, war selbstverständlich, aber nahe Verwandte mussten auch bürgen). Die Westgeschwister hatten zum Glück genug DDR-Kenntnis, so dass sie nicht entrüstet waren, sondern sich von da an mit dem Bruder „heimlich“ bei anderen Verwandten trafen. Die Wirklichkeit war nämlich, dass der Einhaltung der „Distanzierungen“ normalerweise keine große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, es war nur ein Mittel, um die betreffenden Menschen notfalls zu erpressen.

Sonntag, 24. November 2019

Erzählt Euch eure Biographien

Das war eines der Schlagwörter im Zuge der deutschen Vereinigung. Zum Gedenken an „30 Jahre Mauerfall“, als man sich Gedanken machte, warum Ost und West immer noch nicht so recht zueinander passen, wurde es wieder aus der Mottenkiste heraus geholt. In unserem Regionalfernsehen hatte man die Idee, 30-jährige und 60-jährige, die jeweils Ost- und Westhintergrund hatten, zusammen zu bringen, und sich sozusagen ihre Biografien erzählen zu lassen. Mehr zu erzählen hatten naturgemäß die Älteren. Es wurden solche Fragen gestellt wie: ´und wie habt ihr euch gefühlt?´ Die Älteren erzählten, wie aufgeregt sie in der Wendezeit waren und dass sie nie gedacht hätten, dass das und das eintritt….. Oder: ´konntet ihr euch das und das kaufen?, und ehrfürchtig erfuhr man, dass es vieles nicht zu kaufen gab. Abgesehen davon, dass die Beteiligten Menschen waren, die es nicht gewohnt waren, vor der Kamera etwas zu erzählen und dass die Beiträge nur kurz waren, war es doch erschütternd zu erleben, wie nichtssagend diese Beiträge waren. Ich denke, jeder Einzelne hätte etwas zu erzählen gehabt. Das hätten selbst erlebte Anekdoten sein müssen, die Wesentliches aus dem Leben in der DDR kenntlich machen. Möglichst nicht das, was man in jeder Zeitung lesen kann. So werde ich in den nächsten Beiträgen einige DDR-Geschichten schreiben, zum Teil sind sie in diesem Blog schon einmal beschrieben.

Zum Beispiel, wie ich mit meiner 10-jährigen Tochter dem Eintritt der jungen Pioniere in die Organisation der „Thälmann-Pioniere“ beiwohnte. Zwar gehörte das Kind den Pionieren nicht an, aber die Lehrerin hatte gleich danach eine Elternversammlung einberufen. Ich sagte, da gehen wir einfach nicht hin, aber meine Tochter sollte mit einem Schulkameraden in der Elternversammlung ein Lied singen (es war ausgerechnet: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat?“), und da das Kind sehr pflichtbewusst war, bestand es darauf, pünktlich zum Schulappell zu kommen. Da erlebten wir eine gespenstische Situation, ein Erlebnis, was heutzutage außer in Nordkorea wohl keinem mehr vergönnt ist zu erleben. Auf dem dunklen Schulhof, direkt vor dem Thälmannrelief, standen blockweise aufgereiht die Klassen, die dieser Zeremonie alle beiwohnen mussten. Jeweils einen Schritt vor dem Block stand der jeweilige Pionierratsvorsitzende. Vor ihnen hatte sich eine Formation von Fackelträgern aufgereiht. Eine Lehrerin, die im normalen Leben eine normale Frau war, raunte mit vollkommen verstellter Stimme eine Ansprache. Gedichte wurden rezitiert. Die Thälmann Pioniere der älteren Garde banden den Jungpionieren ihr neues Halstuch um. Es zog sich eine Weile hin, mir erschien das alles als absurd und gespenstisch.

Anschließend gingen die Eltern in die Klasse zur regulären Versammlung. Bis jetzt hatte ich es noch nie erlebt, dass Kinder zu dieser Versammlung gesungen haben (es war ein Trick, damit das Nichtpioniermädchen erlebt, was sie an diesem Abend Schönes versäumt und dass noch ein weiteres Kind mitwirkte, war um dieses zu verschleiern). Die beiden Kinder sangen munter ihr Lied, und ich freute mich, meine Tochter beim Gesang zu erleben. Sie durften dann schon nach Hause gehen und mussten nicht das Ende der Klassenversammlung abwarten.

Das wirklich Absurde fand 2 Jahre später statt. Da war die Wende + Vereinigung gelaufen, Thälmann-Schule war nicht mehr passend, ebenso wenig das Thälmannrelief davor. So wurden kurzerhand Bauarbeiter bestellt und – da es gerade so passte -, wurde das Relief genau in der Unterrichtszeit vor den Augen der Schüler zertrümmert.

Samstag, 9. November 2019

Zum „Fall der Berliner Mauer“ vor 30 Jahren

Am 19. Januar 1989, sagte Erich Honecker: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.

Nach dem „Fall“ dieser Mauer, nur knapp 10 Monate nach diesem Ausspruch, hörte man immer wieder Begeisterung über dieses unglaubliche Wunder, und dass man es nie für möglich gehalten hat, dass dieser Fall je eintritt. Sogar heute noch, im Rückblick 30 Jahre danach, hört man, dass Menschen ihren Unglauben darüber äußern, dass sie es vor dem 9.11.1989 je für möglich hätten halten können, sich diesen Fall (im doppelten Sinne) vorstellen zu können.

Äußerungen jener Art besagen, dass man Erich Honecker sehr ernst genommen hat und an die DDR glaubte. Es scheint, als würde man nach 30 Jahren immer noch an Erich Honecker und die DDR glauben.

Da halte ich es mehr mit meinem Verwandten, der 1989 dem verrotteten und nicht mehr benötigten Klohäuschen seines Landhauses einen Tritt gab und dazu sagte: „So wie man dieses Klohäus´chen mit einigen Tritten zu Fall bringen kann, so wird es mit den kommunistischen Regimes geschehen“. Das, was man als Friedliche Revolution bezeichnet, kann man als Implosion der DDR bezeichnen.

Freitag, 1. November 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - V )

Da bemerkte ich, dass meine Freundin sich unbehaglich fühlte. Ich hatte den Eindruck, sie wolle die Versammlung gern verlassen. Da ich meinen Part vollbracht, sogar noch eine Diskussion bestritten hatte, sagte ich, dass wir beide doch jetzt gern gehen möchten (wir waren insgesamt ca. 2 Stunden dort), und dass es vielleicht sinnvoll sei, noch einmal im etwas kleineren Kreis die Dinge zu besprechen. Zum Abschluss gaben wir allen Teilnehmern die Hand. Unsere Gastgeber verabschiedeten sich halb aufgeregt, halb verlegen. Sie hatten ein kleines Geschenkpaket für mich vorbereitet. Ich sagte, dass mir der Abend gefallen hat, und dass es mir nichts ausmacht, wenn nicht alle einer Meinung sind. Meine Freundin gestand mir später, dass sie überhaupt nicht begriffen hat, was da vor sich geht, dass sie der Diskussion nicht folgen konnte, weil sie über die Voraussetzungen nur flüchtig informiert war.

Später überlegte ich, wie wohl die Gruppe hinterher mit dem einladenden Ehepaar umgegangen sein mag. Mit dem christlichen Hintergrund kann ich mir nicht vorstellen, dass sie das Ehepaar B. wegen ihres vollkommenen Fehlgriffs einfach nur verhöhnt haben. Ich schätze, Herr Pastor J. hat die Sache noch einmal endgültig klargestellt und dann ist man vielleicht zum persönlichen Teil des Abends übergegangen: wer wohin gereist ist, was nach meiner Beobachtung eines der Hauptthemen in ähnlich situierten Kreisen ist. Einige Reiseziele waren mir in der Unterhaltung voraus schon zu Ohren gekommen.

Nachdem ich zu Hause war, schrieb ich bald eine E-Mail an das Ehepaar B., in der ich als Resümee des Abends zusammen fasste, dass zwischen den Ansichten von Pastor J. und mir nur ein winziger Unterschied, allerdings mit beträchtlichen Folgen, liegt: Pastor J. meint, dass eventuell judenfeindliche Verse im Neuen Testament gar nicht judenfeindlich sind, dass sie im übertragenen Sinn verfasst sind und in der späteren Geschichte miss interpretiert wurden. Ich sehe es so, dass die Evangelien durchaus von Menschen, nicht etwa von Gott, geschrieben sind, und dass diese meinten, was sie schrieben und bestimmte Absichten damit verfolgten. Als Anlage schickte ich einen kurzen Text eines niederländischen Theologen mit, der diese Thematik gut erklärte. Darauf bekam ich keine Antwort, was mich enttäuschte. Es passte nicht zu dem Ehepaar, und ich fand, dass die Leute nach meiner Nachsichtigkeit nun auch mir etwas schuldig wären. Bei dieser Überlegung hatte ich nicht Herrn Bs. Tütligkeit einkalkuliert. Natürlich kam noch etwas, sogar ein Brief, dem ein Blumengutschein beigelegt war, aber einen Monat später. Eine freundliche Antwort. Die Diskussion wurde so erklärt, dass man in ihrem Kreis manchmal etwas heftig und nicht immer tolerant diskutiere. Bei mir dachte ich: ´Ach, w ü r d e t ihr doch nur diskutieren!´ Ich bedankte mich freundlich.

Der Titel dieses Berichts ´Eins greift ins Andere´ erscheint mir für meine Erlebnisse zutreffend. Denn nicht nur die Ereignisse, die ich als vielschichtig und lebendig empfunden habe, griffen ineinander. Dazu gehören Gespräche, die ich später mit anderen Menschen führte, und die Gedanken, die ausgehend von den einzelnen Erlebnissen in die verschiedensten Richtungen schweifen und immer weiter greifen können. Je nachdem ob man bereit ist, sich darauf einzulassen, kann ´eins ins andere greifen´ oder auch nicht.
(Ende)

Dienstag, 29. Oktober 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - IV)

Wir beide hatten uns auch vorgestellt, daraufhin begann ich den Vortrag. Zuerst erzählte ich die Vorgeschichte, wie es so weit gekommen ist, dass ich hier sitze: das Seminar in Güstrow, die Bekanntschaft mit Professor Schmidt, meine Rezension seines Buches in der Kirchenzeitung. Dann erzählte ich straff zusammengefasst, worum es in dem Buch geht: Welche Wirkung die sehr emotionalen und in vieler Hinsicht beeindruckenden Passionen von Bach in den Menschen hervorrufen können. Dass die Passionsmusiken sich auf Texte in den Evangelien beziehen, die eindeutig judenfeindlich sind und die eine Blutspur durch die Geschichte gezogen haben. Dass das Bewusstsein darum weder Verurteilung von Evangelien noch Passionstexten bedeuten, sondern dass man sich der Geschichte und der Wirkung bewusst sein sollte, die geschichtlichen Zusammenhänge kennen und eine Stellung dazu finden und haben solle. Rhetorisch war der Vortrag sicher nicht einwandfrei – ich bin es nicht gewohnt, Vorträge zu halten. Aber ich sprach frei und las einige selbst erlebte Anekdoten, z.B. wie ich dabei war, als eine junge mecklenburgische Pastorin der jüdischen Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide direkt und – ich würde es so bezeichnen – frech ins Gesicht sagte: „Die Juden haben Jesus gekreuzigt“ Oder ich machte die Bemerkung, dass die meisten Menschen ihre lieb gewonnen Antipathien nicht gern lassen, was auf Juden bezogen nach dem Krieg schlecht möglich war, und man die durch die Jahrhunderte gepflegte Abneigung gegen Juden kulturell transmittierte. Der Besuch der Passionsmusiken hat nach dem Krieg einen großen Aufschwung genommen, so wie nebenbei gesagt, auch die Verehrung für Wagnermusiken.

Während meines Vortrags, der etwa eine Dreiviertelstunde dauerte, schaute der Pastor mich aufmerksam an. Ich würde fast sagen, er hing an meinen Lippen. ´Was für Gespräche mögen sich mit ihm vielleicht ergeben`?, fuhr es mir durch den Kopf. Kaum hatte ich geendet und noch um eventuelle Fragen gebeten, da legte Pastor J. los, ohne überhaupt eine Denkpause zu lassen. Ja, er ging mich frontal an. Meinen Vortrag lehne er komplett ab, Judenfeindlichkeit gibt es in den Evangelien nicht und er lasse sich seinen Matthäus nicht schlecht machen. Ich fragte etwas entgeistert, was denn die Ursache für die Pogrome an den Juden, Vertreibungen und Inquisition in der Geschichte gewesen wären. Das hätte alles auf Missinterpretationen beruht, antwortete mir Pastor J.

Darauf schaltete sich ein zweiter Mann an, und der wurde schon nicht mehr theologisch, sondern menschlich aufbrausend und bewegte sich mit seinen Aussagen am Rand der Unhöflichkeit. „Ich bin sowieso dagegen, ständig in altem Schlamm zu wühlen….“ Mir fiel nichts Besseres ein als ihm zu sagen, das wäre doch nun mal Thema des Abends und dann solle er bitte nicht in der Bibel lesen, denn die wäre besonders alt. Darauf hatte er keine Antwort, was ihn noch wütender zu machen schien. Weitere Aussagen oder Fragen wurden getätigt, alle von Männern, die sich hinter ihren Pastor stellten (was ich irgendwie auch rührend fand). An manche Fragen, Aussagen und an ihre Reihenfolge kann ich mich nicht mehr erinnern. Einmal, als es mir zu dumm wurde, sagte ich: „Herr Pastor J. Sie wissen doch in der Kirchengeschichte Bescheid, erzählen sie doch bitte etwas über die Rolle der evangelischen Kirche in der Nazizeit“. Ohne Zögern gab er die Antwort: „Da gab es den verrückten Spinner Müller, aber dann gab es auch die bekennende Kirche und Bonhoeffer, und deren Rolle wird bedeutend unterschätzt“. Er erzählte noch, dass es in seiner Gemeinde einen Kelch von Bonhoeffer gegeben hat.

In mir spielten sich nun andere Gedanken ab. Als erstes empfand ich einfach nur Verblüffung. Da man mich wegen des Artikels eingeladen hatte, war ich ohne zu hinterfragen davon ausgegangen, dass eine gewisse Übereinstimmung in den Ansichten vorliegt. Aber natürlich: Herr B. hatte mich eingeladen, um ein interessantes Thema für den von ihm und seiner Frau veranstalteten Abend zu haben. Er war tütelig genug, um nicht zu erkennen, dass die Ansichten seines ehemaligen Gemeindepastors und meine nicht kompatibel waren. Wie nett das Ehepaar B. mich empfangen hatte, fiel mir ein. Wir müssen hier ´rauskommen, ohne dass es eklatmäßig zugeht, und ich darf keinen Keil in diese sonst ganz nette Gesellschaft treiben! Zwischendurch packte mich die Wut: Was, ich bin doch eingeladen worden, ich fahre 300 km mit dem Auto hierher und muss mir das anhören! Auch wunderte ich mich im Stillen, dass sich nach 40 Jahren Gesprächskreis nicht eine Gesprächskultur mit Für und Wider, Ja und Aber, Einerseits und Andererseits entwickelt hat. Zumindest bei Auseinandersetzungen hätte eine gewisse Moderation erfolgen müssen. Diese Rolle wäre natürlicherweise dem Pastor zugefallen. Ich stellte mir vor, dass die „normalen“ Gesprächsabende so stattfinden, dass einer ein Thema vorgibt, und jeder sagt nach und nach etwas „Positives“ dazu, wie ich es auch schon anderswo erlebt habe. In dieser Hinsicht war der Abend für die Gruppe vielleicht ein heilsames Erlebnis.

Sonntag, 27. Oktober 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - III)

Etwa zwei Monate nach dem Erscheinen meines Artikels in der Potsdamer Kirchenzeitung bekam ich die Anfrage von der Redaktion, ob man meine E-Mail Adresse weiter geben dürfe, weil jemand Interesse an dem Beitrag hat. Bald darauf bekam ich eine E-Mail von einem Herrn aus Potsdam, der erzählte, dass er einem christlichen Gesprächskreis angehört, der schon seit vielen Jahren monatlich zusammenkommt, um jeweils zu einem bestimmten Thema zu diskutieren. Seine Frau und er hätten meinen Artikel interessant gefunden und würden sich freuen, wenn ich einmal zu ihrem Kreis käme und der Artikel zum Diskussionsthema würde. So eine Gelegenheit hielt ich wiederum für mich interessant und außerdem reizte es mich, verschiedene Freunde in Potsdam bei der Gelegenheit zu besuchen.

Mit dem Herrn aus Potsdam, Herrn B. wechselte ich einige E-Mails. Eines Tages war es so weit, dass ein telefonischer Kontakt zustande kam. Wir sprachen noch einmal über den Termin, und Herr B. fragte mich, in welchem Stadtteil ich wohne. Ich antwortete, dass ich in gar keinem Stadtteil wohne, sondern dass ich von der Ostsee käme. Es schien mir, dass ich durchs Telefon höre, wie Herrn B. die Kinnlade herunterfiel. Er wurde verlegen und konnte es irgendwie nicht zusammenbringen, dass ich in 300 km Entfernung wohne, dass ich aber zum Gesprächskreis komme. Er machte sogar die Bemerkung, dass er der Meinung gewesen wäre, wenn man in der Potsdamer Kirchenzeitung schreibt, dass man aus Potsdam wäre. Da kam zum ersten mal der Verdacht in mir auf, dass Herr B. vielleicht etwas lebensfremd und umständlich wäre (ich bezeichnete ihn als „tütelig“). Diese Vermutung verstärkte sich, als Herr B. vor meiner Abreise mich mehrmals anrief, um mir verschiedene Hinweise zu geben. Z.B. in wie viel hundert Meter Entfernung von ihrer Wohnung ich dann parken solle, weil ich bestimmt keinen Parkplatz bekommen werde oder Hinweise, wo es am nächsten Tag Staus auf dem Weg geben werde. Was er mir schwerer vermitteln konnte war, welche Rolle ich an dem Abend einnehmen sollte und wie mein Auftreten organisatorisch vonstattengehen werde. Ich hatte mich mit einem Konzept vorbereitet und mir einige Anekdoten aufgeschrieben, die meinen Vortrag illustrieren sollten.

In Potsdam wohnte ich bei meiner Freundin, die sich bereit erklärt hatte, mich an dem Abend zu begleiten. Mit dem Auto fuhren wir in einen Potsdamer Stadtteil und fanden sofort einen Parkplatz direkt vor Familie Bs. Haustür. Wir befanden uns in einer mittelgroßen Plattenbausiedlung. Herr B. hatte mir damals am Telefon gesagt, dass seine Familie die einzige aus dem Kreis wäre, die noch in der Plattenbausiedlung, dem Ursprung des Gesprächskreises wohnt, während die anderen nach der Wende in eine andere Wohngegend zogen oder sich ein Haus gebaut hätten. Das schien ihm nichts auszumachen. Mir war es sympathisch, verstärkte aber meinen Verdacht auf eine gewisse Weltfremdheit des Mannes.

Von dem sehr freundlichen Ehepaar, ca. 70 Jahre alt, wurden wir in Empfang genommen. Die Frau schien die Energischere von beiden zu sein. Der Mann bestätigte durch eine gewisse Umständlichkeit meine ihm im Voraus unterstellte „Tütligkeit“. Beiden hatte ich ein kleines Geschenk mitgebracht, worüber sie gerührt waren. Das Wohnzimmer war zum Teil ausgeräumt und mit Sitzgelegenheiten vollgestellt. Auf einem Tisch waren Getränke und ein wenig Knabberzeug. Wir nahmen uns einen Platz, und schon kam ein Ehepaar nach dem anderen. Alles Menschen ca. zwischen 60 und 75 Jahren. Dieser Kreis hatte sich schon vor 40 Jahren – in Opposition zur DDR – gegründet. Man war wie eine Familie. Die ältesten von ihnen waren ein Pastor und seine Frau. Er war ihr damaliger Gemeindepastor, der weiterhin dem Kreis verbunden ist. Nach ein wenig Hin und Her begann ein gegenseitiges Vorstellen: Alter, Beruf und Zahl der Kinder und Enkelkinder. Überwiegend gehörten die ca. 18 Teilnehmer der technischen Intelligenz an: Ingenieure und Naturwissenschaftler überwogen.

Freitag, 25. Oktober 2019

Eins greift ins andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - II)

Ein Glanzpunkt der Tagung war der Vortrag des emeritierten Theologieprofessors und Bibelwissenschaftlers J.M. Schmidt zum Thema „Judenfeindlichkeit in den Passionsmusiken?“ Der Vortrag überzeugte durch seinen klaren Aufbau und seine differenzierte und logische Beweisführung, und der Vortragende durch seine Identifizierung mit der Thematik, einschließlich seiner Liebe zur Musik zu der auch die Passionsmusiken gehören und seine Hinwendung zu den Zuhörern. Selbst wer zum Inhalt Vorbehalte hegte, war vom Vortrag beeindruckt.

Da auch ich zu den beeindruckten Zuhörern gehörte, schickte ich an Professor Schmidt im Anschluss an das Seminar eine E-Mail, in der ich ihm dankte und meine Anerkennung sowohl für den Inhalt des Vortrags als auch für die gekonnte Darbietung zollte. Darauf bekam ich eine freundliche Antwort und den Hinweis, dass im Frühjahr eine neue Auflage seines Buches „Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Zur Geschichte ihrer religiösen und politischen Wahrnehmung und Wirkung“ erscheinen wird. Ich schrieb, dass er mich dann bitte darüber informieren möchte. In einem Anfall von Naivität fügte ich hinzu, dass ich dann eine Rezension darüber anfertige, die ich Zeitungen anbieten werde.

Im März kam der Hinweis, dass das Buch in der „Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig“ erschienen ist. Zu der Zeit befand ich mich im Krankenhaus. Ich fühlte mich nicht in der Lage, das Buch zu lesen, geschweige zu rezensieren. Besonders als ich das Buch in den Händen hatte. Es war 670 Seiten stark, in wissenschaftlicher Sprache mit unzähligen Fußnoten geschrieben. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich getrieben, die versprochene Rezension zu schreiben. So lag ich da im Krankenhaus auf meinem Bett und quälte mich durch die Seiten. Ich hatte den Eindruck, nichts zu verstehen und alles Gelesene sofort zu vergessen. Dabei entwickelte ich die Methode, alles was mir wesentlich erschien, mit Bleistift zu unterstreichen und anhand der unterstrichenen Stellen jedes Kapitel in einem Satz zusammen zu fügen. Tatsächlich bekam ich es fertig, bis Mitte April eine Rezension anzufertigen. Groß war meine Überraschung, als Professor Schmidt mir darauf antwortete, dass ich in dem Aufsatz genau seinen Intentionen entsprochen habe.

Nun schickte ich die Rezension an drei Zeitungen, an zwei kirchliche Zeitungen und an eine jüdische Zeitung. Übertriebene Erwartungen, dass der Artikel zum Druck angenommen wird, hatte ich nicht. Umso größer war die Freude, dass beide Kirchenzeitungen die Rezension druckten. Der Redakteur der jüdischen Zeitung schrieb mir, dass er die Thematik interessant fände, dass er darüber aber kaum Bescheid wisse und er nicht zu Unrecht etwas „judenfeindliches“ über Bach schreiben möchte. Darauf antwortete ich, dass es mir keinesfalls um die Person J.S. Bach gehen würde, sondern um die Wirkung, die die Passionsmusiken auf Menschen ausgeübt haben. Aber das überzeugte nicht. Mit der Veröffentlichung meiner Rezension in zwei Zeitungen erschien mir das Kapitel zufrieden stellend gelöst und damit zu Ende gebracht zu sein

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