Mittwoch, 23. Oktober 2019

Eins greift ins andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen)

Im Sommer 2017 nahm ich in einer evangelischen Akademie in Güstrow an einem Seminar teil, das die Überschrift „Antisemitismus in den Medien“ trug. Ein wenig irreführend war der Titel, denn Medien spielten hier eine untergeordnete Rolle. Mich interessierten die Medien schon, höre ich doch oft im DLF, den Sender, der bei uns oft läuft, bösartige Beiträge, fein säuberlich und politisch korrekt immer auf „Israel“ bezogen und nicht auf „Juden“, die man aber eindeutig als antijüdisch identifizieren kann.

Das Seminar war in vieler Hinsicht hoch interessant, leider muss ich sagen, dass mir in Erinnerung besonders der Satz eines „Antisemitismusforschers“, einem jungen Mann mit zwei Doktortiteln, geblieben ist: „An dem, was man den Juden vorwirft, ist immer ein Körnchen Wahrheit“. Schlagartig erkannte ich viel über Antisemitismus und stellte die Vermutung an, dass Antisemitismusforscher entweder so gebannt auf den Antisemitismus starren, dass sie selbst davon eingenommen werden oder dass gerade ihr Hang zum Antisemitismus sie dazu leitet, diesen zu erforschen.

Interessant war die Veranstaltung ebenfalls in Bezug auf seine Teilnehmer. Ja, vielleicht interessierten diese mich mehr, als das etwas gestelzte Dozieren der jungen Referenten. Die Teilnehmer am Seminar waren eher zurückhaltend, manche wirkten unsicher, sie wollten etwas wissen, was sie dann aber doch nicht unbedingt wissen wollten. Denn sie kamen größtenteils aus christlichen Kreisen und konnten es schwer ertragen, dass „ihr“ Luther oder „ihr“ Bach auf irgendeine Weise diskreditiert werden könnten. Sie schienen sich vorzustellen, dass „Antisemitismus“ etwas Abstraktes und Statisches ist, und dass man entweder Antisemit ist oder eben nicht. Dass es Ursachen und Wirkungen, Wurzeln, Haupt- und Nebeneinflüsse geben, dass man zu etwas mehr oder weniger tendieren kann, oder dass etwas existieren könnte, was man Geist nennt, schien kaum im Bewusstsein zu sein.

Ein besonderer und herausragender Teilnehmer war ein ehemaliger Verfassungsrichter, der immer wieder und bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit auf den „Unrechtsstaat Israel“, über den er bestens Bescheid wusste obwohl er nie dort war, zu sprechen kam, was meine Vermutung über die Mutierung von Judenfeindlichkeit zu Israelfeindlichkeit erhärtete. Obwohl ihm kaum widersprochen wurde – eher aus Unvermögen als aus Einverständnis – fühlte er sich, wie er zum Schluss sagte, unverstanden, sogar angefeindet. Einige male hatte ich ihn im Verlauf des Seminars heftig zurecht gewiesen, mir wurde dabei von anderen Teilnehmern oder dem Seminarleiter ebenfalls nicht widersprochen, aber auch nicht zugestimmt.

Dienstag, 15. Oktober 2019

Gedanken über Antisemitismus

Ab und zu besuche ich eine Veranstaltung, die den Antisemitismus zum Thema hat. Weil dort eine Anzahl von fremden Menschen zusammenkommt, die sowohl aus ihrer Hilflosigkeit angesichts des Themas oder auch aus einer gewissen Besessenheit keinen Hehl machen. Immer sind die Gespräche der Menschen interessanter als die Vorträge selbst. So lernte ich bei solch einer Tagung einen pensionierten Verfassungsrichter kennen, der sich als Besucher dazu berufen fühlte, bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit auf den „Unrechtsstaat Israel und das Leid der Palästinenser“ hinzuweisen. Sein Auftreten hatte etwas von Besessenheit – ich bekam eine Ahnung davon, was Antisemitismus sein könnte. Es fielen Worte wie: „Gaza ist ein Gefängnis“ oder „jüdische Lobbygruppen mischen sich in die Politik ein“. Er ergriff das Wort, hielt Vorträge über die Entstehung Israels, ob es zum Thema passte oder nicht. Die Veranstalter erwiesen sich meist hilflos ihm gegenüber und wagten nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass seine Ausführungen fehl am Platz wären.

Bei einer vor einigen Wochen stattgefundenen Tagung über Antisemitismus kam mir als erstes der Verfassungsrichter vor die Augen, so dass ich mir vorkam wie im Märchen vom Hasen und Igel: „Ich bin all hier!“ Diesmal hielten Referenten aus 5 osteuropäischen Ländern profunde Vorträge, wie es mit dem Antisemitismus in ihren Ländern ist, ob und wie er sich entwickelt hat, was für markante Zwischenfälle es in der Geschichte gegeben hat, wie sich die Besetzung durch die Deutschen auf das Verhalten der Bevölkerung ausgewirkt hat. Ein tschechischer Botschaftsrat referierte über den ersten Präsidenten der Republik, Tomas Masaryk, der sehr dazu beigetragen hat, dass es in Tschechien kaum Antisemitismus gibt. Der Referent berichtete über den legendären Hilsner Prozess, der etwa mit dem berühmten Dreyfuss Prozess zu vergleichen ist, und bei dem der junge Rechtsprofessor Masaryk eine ähnliche Rolle einnahm, wie in Frankreich der Schriftsteller Emile Zola. Ein jüdischer Hausierer war des Ritualmordes angeklagt, und Professor Masaryk konnte die Anklage widerlegen und verhalf dazu, dass das Todesurteil gegen den Hausierer Hilsner zurück genommen wurde. Der Vortrag ging weiter, und auf Nachfrage, wie es in der Gegenwart wäre, sagte der Botschaftsrat, dass Antisemitismus in Tschechien eigentlich nur von dort lebenden Palästinensern, also von außerhalb, ausgeht.

Da war das Stichwort für den Verfassungsrichter gefallen. Er fragte, wie es möglich sei, Palästinenser und Vorfälle aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts in einem Atemzug zu nennen. Den Tschechen brachte das nicht im Geringsten in Verlegenheit: „Sie haben in meinem Vortrag auf dem Bildschirm die Abbildungen der antisemitischen Stereotype gesehen, die während der Hilsner Hysterie gedruckt und verbreitet wurden. Genau solche Abbildungen werden heute von Palästinensern über Juden verbreitet“. Die Antwort war so einfach, klar und verständlich, dass dem Verfassungsrichter keine Entgegnung einfiel.

Mittwoch, 9. Oktober 2019

Sah Westdeutschland in der DDR einen Unrechtsstaat? Oder: Staat liebt Staat

Folgendes erzählte mir ein Bekannter. Ich fragte ihn, was seine Frau für einen Beruf hat, und er antwortete, dass sie Lehrerin an einer Schule für Behinderte ist. Ihre Ausbildung hat sie in der DDR in den kirchlichen Fürstenwalder Samariteranstalten zur Psychiatriediakonin gemacht und hatte schon mehrere Jahre Praxis in der Arbeit mit behinderten Menschen, als die Mauer fiel. Solcherart Ausbildungen gab es in der DDR an mehreren Orten und zu verschiedenen sozialen Berufen. Kennzeichen der kirchlich ausgebildeten Berufe war es, dass der DDR-Staat sie nicht anerkannte, obwohl durch die Westkontakte der Kirchen die Ausbildungen breiter und qualifizierter als vergleichbare staatliche waren. Die Ausgebildeten arbeiteten normalerweise sowieso in kirchlichen Einrichtungen. So viel hatte ich gewusst.

Was ich nicht gewusst hatte war, dass der DDR-Staat diese Berufe aus dem Grund nicht anerkannte, weil die nötige politische Qualifizierung, d.h. das Studieren der Lehren von Marx und Engels und die dazu gehörenden Prüfungen in kirchlichen Ausbildungen fehlten. Im Zuge der Einigungsverhandlungen kam auch dieses Thema zur Sprache, und es war offensichtlich: der westdeutsche Staat kann die kirchlichen Berufe nicht anerkennen, wenn sie nicht den DDR-staatlichen Abschluss haben. Auch wenn die Leute schon Jahre Berufserfahrung hatten. Allerdings hatten sie später die Möglichkeit, in Gesamtdeutschland noch eine Zusatzschulung samt Berufsanerkennung zu machen (ob nun auch in Marxismus-Leninismus? Wohl eher nicht.), von der die meisten einen Gewinn hatten. So auch die Frau meines Bekannten.

Ärgerlich war es trotzdem, weil bei Neugründungen von Schulen oder sozialen Einrichtungen die ehemaligen Pionierleiterinnen mit ihrem DDR-Grundschullehrerabschluss den "unqualifizierten" kirchlichen Mitarbeitern trotz Berufserfahrung vorgezogen wurden.

Allerdings hatte man der Frau meines Bekannten schon vor der Vereinigung noch etwas anderes angeboten: In dem halben Jahr, als es die so genannte demokratische DDR gab, also die mit der frei gewählten Volkskammer, da gab man den „beruflich nicht Anerkannten“ die Möglichkeit, noch in Kursen und im Eiltempo den Marxismus-Leninismus zu studieren und eine dazu gehörende Abschlussprüfung abzulegen. Dann wären sie zu voll vom DDR-Staat und somit auch vom BRD-Staat anerkannten Berufskräften geworden. Mein Bekannter sagte, da wären sich seine Frau und andere zu blöd vorgekommen, und sie nahmen lieber die Nachschulung im Westen – in welchen Fächern auch immer – in Kauf.

Donnerstag, 3. Oktober 2019

Zum Tag der deutschen Einheit

Die deutsche Einheit hat zwar keinen „runden Geburtstag“, dafür aber der Fall der Mauer in gut einem Monat. Wenn man Berichte und Kommentare liest oder hört, meint man, gewisse Verstimmungen herauszuhören. Oft macht man die Ungleichheit zwischen beiden Teilen Deutschlands an den Prozenten fest, wie diese oder jene Geldeinnahme (Löhne, Renten) in dem jeweiligen Landesteil vonstattengeht. Und da fühlt sich derjenige, der weniger hat, „abgehängt“. Ich behaupte, dass jeder einzelne ehemalige DDR-Mensch – ob er so oder so viele oder wenige Prozente bekommt -, ungleich mehr an Materiellem hat, als er es sich vor Fall der Mauer erträumte, einmal besitzen zu können. Selbst ein armer Schlucker kann jetzt einen Farbfernseher besitzen, sogar ein Auto, was für ihn als DDR-Bürger überhaupt das ganze Lebensziel war. Von Smartphones träumte damals noch niemand.

Die Unzufriedenheit, die man meint herauszuhören, muss von etwas anderem herrühren. Damit meine ich, dass gesellschaftliche Verwerfungen entstehen, wenn man Lüge zur Grundlage der Gesellschaft macht.

In der DDR haben wir es erlebt. Wir erlebten, wie diejenigen, die die Gesellschaft bestimmten, das öffentliche Leben zu einem Lügengebilde machten. Darin hatte zwar manches seine Stimmigkeit, aber eben nur so lange man die Lüge als allgemein gültig annahm. Beispielswese wurde immer wieder betont: Der Sozialismus ist wissenschaftlich, und nach der Wissenschaft kommt nach dem Sozialismus zwangsläufig der Kommunismus. Wir lernten im Staatsbürgerkundeunterricht, dass es eine Basis und einen Überbau gibt. Stimmt die Basis nicht, dann kann der Überbau noch so in sich stimmig sein und trotzdem ist das ganze Gebilde, bzw. die jeweilige Gesellschaft falsch – damit meinte man zweifellos die kapitalistische Gesellschaft.

In Wirklichkeit stimmte etwas an der „Basis“ der DDR nicht, und das führte auch zu ihrem Ende. Die DDR-Bürger hatten von ihrer „Basis“ die Nase voll, und letztendlich, sobald sich ein kleiner „Riss“ in der Mauer aufgetan hatte, stimmten sie mit den Füßen ab. Nicht jeder wünschte sich das Gleiche, viele hatten Materielles im Sinn, manche die Reisefreiheit und einige die Freiheit überhaupt. Man rätselt heute, was das Startsignal zur Implosion der DDR war. Manche meinenn, die Biermann-Ausbürgerung, manche meinenn die Tatsache, dass einem immer größeren Personenkreis Privatreisen in den Westen erlaubt waren, manche meinen, die „Basis“ stimmte nicht.

Ob die Unzufriedenheit, die man heute über den Stand der deutschen Einheit heraushört, vielleicht auch damit zu tun hat, dass die „Basis“ nicht stimmt? Unter Basis meine ich, die Vorstellung, dass die deutsche Einheit sich auf einer "friedlichen Revolution" gründe. Dabei wird außer Acht gelassen, dass fast niemand von denen, die Anstoß zur friedlichen Revolution gaben, die deutsche Einheit zum Ziel hatte, sondern dass praktisch alle Bürgerrechtler eine reformierte DDR anstrebten. Man soll den friedlichen Revolutionären ihren Ruhm lassen. Zum Ende der DDR haben sie beigetragen, aber nur in einem gewissen Maße. Die DDR wäre auf jeden Fall implodiert. Vielleicht wäre es nicht ganz so friedlich zugegangen. Wahrscheinlich wäre die Unzufriedenheit auf beiden Seiten nicht so groß, wenn man ehrlicher mit der Geschichte umginge.

Montag, 30. September 2019

Greta ist eine Kunstfigur, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat

Es kommt in Unterhaltungen immer einmal vor, dass die Rede auf das Phänomen „Greta“ kommt. Nicht „Greta“ halte ich für ein Phänomen, sondern wie die Welt der so genannten Erwachsenen mit ihr umgeht und was sie in sie hineinsieht. Das Leben Gretas gäbe Stoff für einen jener Romane von dem man nach dem Lesen sagt: „Sehr skurril, aber von der Wirklichkeit ziemlich weit entfernt!“ Mir erscheint Greta als eine Kunstfigur, die Franz Kafka für einen Roman über eine absurde Welt hätte erfinden können.

Kurz gesagt: ich bin eine Gretaskeptikerin, und ich scheue mich nicht, das hier und da auszusprechen. Im Bekanntenkreis bekomme ich darauf einhellig, als hätten sich diejenigen abgesprochen, die Antwort: „Es ist gut und sehr wichtig, dass die Jugend so engagiert da heran geht und sich Gedanken macht!“ Da kann man heraushören, dass derjenige damit sagen will: ´Auf unsere Generation trifft die Klimschützereuphorie nicht unbedingt zu, aber wir setzen unsere Hoffnung in die Kinder, die sich dieses ´brennenden´ Themas an unserer Stelle annehmen. Es ist ja ihre Zukunft, sie werden es schon machen`. Ich verteidige meine Meinung, dass sowohl Greta als auch ihre Jünger ideologisierte Kinder sind, und dass der Gretawahn sogar schädlich für die Menschheit ist, denn sie offenbart vor aller Augen, dass es nicht das geringste ausmacht, dass was jemand sagt und was er tut, nichts gemeinsam hat, und dass diese Tatsache allgemein anerkannt ist. Als Beispiel nenne ich den stv. Chefredakteur der „ZEIT“ Bernd Ulrich, der Bücher über Ökologie schreibt, „Klimaskeptiker“ verteufelt, und sowohl er als auch seine Kollegen organisieren und werben und fahren als Reisebegleiter mit auf teure Kreuzfahrten in alle Welt. Wahrscheinlich ist es von Vorteil, in der ehemaligen DDR aufgewachsen zu sein, denn da hat man ein gutes Gespür erworben für den Antagonismus zwischen Wort und Tat.

Am 28.9. hörte ich nebenbei im Autoradio eine Sendung des DLF, in der es darum ging, wie Klassenfahrten heutzutage geplant und durchgeführt werden. Da offenbarte sich ein Bild der Schülerschaft, die mit meiner vorher gesagten Theorie, nicht aber mit den Theorien der „Greta-Anhänger“ übereinstimmt. Eine Lehrerin wurde gefragt, ob Flugreisen in Zeiten des Klimaschutzes nicht obsolet seien. Die Lehrerin antwortete, dass ihr das schon bewusst sei, aber ihre Schüler würden sich wohl weigern, 20 Stunden mit dem Bus zu fahren. Ein weiterer Lehrer sagte, dass er sich wünschen würde, als Abschlussfahrt mit der Abiturklasse z.B. einen Fluss von der Quelle bis zur Mündung mit Rädern abzufahren, weil das mehr Erlebnis- und Gemeinschaftsgewinn brächte, aber da würden seine Schüler nicht mitmachen. Auch das "Chillen" dürfte auf Klassenfahrten nicht unberücksichtigt bleiben.
Selbstverständlich machte es niemanden etwas aus, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen.

Sonntag, 1. September 2019

Meine Reise in die Ukraine vom 14. bis zum 23. Juni 2019 (Teil 8)

Das Grab von Rabbi Nachman sahen wir uns am nächsten Tag an, es gab einige kuriose Geschichten rundherum. Ein damals junger Jude aus den USA hatte sich noch vor Ende der Sowjetunion auf abenteuerliche Weise auf den Weg nach Uman, damals eine „verbotene Stadt“ begeben, dort das Grab, das noch von einer Betondecke überzogen war, ausfindig gemacht, und es entwickelte sich, dank der „Wende“, ein gewaltiger Kult um Rabbi Nachman, der hauptsächlich von amerikanischen und israelischen Juden betrieben wird. Inzwischen hat sich das so entwickelt, dass zur Freude der Umaner – denn sie profitieren davon -, schon ein beträchtlicher Teil von großen Gebäuden rings-umher jüdisch ist. Man erkannte es an den Aufschriften. Es gibt Hotels, Läden und was sonst noch so nötig ist. Manches ist noch provisorisch, z.B. die Tunnelwege, links für die Männer, rechts für die Frauen, die abenteuerlich wirken mit Blech- und Bretterverkleidungen. Man gelangt durch den Tunnel in einen Gebetssaal. In einer Ecke steht ein halbes Grab direkt an der Wand. An der anderen Seite der Wand steht die andere Hälfte des Sarkophages in einem Gebetssaal für Männer.


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provisorischer Tunnelweg zu Rabbi Nachmanns Sarkophag

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Rabbi Nachmans Sarkopharg rechts hinten

Unserem Besuch von Rabbi Nachmans Sarkophag anschließend, besichtigten wir, geführt von einer einheimischen Frau, den berühmten Sophienpark (die einzige Stelle, wo ich Ansichtskarten erwerben konnte), ein Landschaftspark, der mich trotz großer Unterschiede an die Pückler-Parkanlagen bei uns erinnerte. Kennzeichen des Parks waren die gewaltigen Steinaufbauten, die sich gut in die Landschaft einfügten. Dazu Pavillons, eine Quelle, Teiche, Grotten, Blumenanlagen, eine Fontäne, Statuen und demnächst wird es noch einen kleinen Zoo geben.

Bei dem Transport und dem Aufstellen der monströsen Steine - damals alles manuell bewältigt -, sind mehrere Menschen um´s Leben gekommen, und so heißt ein besonders großer und bizarrer Stein: Stein des Todes.

Am nächsten Tag begaben wir uns auf den Weg nach Shytomyr. Wir fuhren ein Stück ukrainischer Autobahn, die teilweise sogar einen glatten Belag hatte. Man konnte an gekennzeichneten Stellen wenden. Sie hatte eher Ähnlichkeit mit unseren Überlandstraßen. Hier war mehr Landschaft zu sehen: viele Sonnenblumenfelder noch nicht blühend, reifendes Getreide, das einen an die ukrainische Fahne denken ließ. Dabei hatten wir das, was ich als „echtes Erlebnis“ bezeichne, also etwas, was nicht erwartet wurde und was zudem einen Einblick ins Land verschafft. Auf der Straße war ein LKW, mit einem großen Container beladen, möglicherweise beim Umfahren eines Schlaglochs, im Straßengraben gelandet. Da die Straße vom Bergungsauto und zwei großen Kränen versperrt war, blieb uns nichts anderes übrig, als der Bergung des Lasters, ca. ¾ Stunde zuzusehen, und es war für uns ein zusätzliches Reiseerlebnis.

Mit Verspätung kamen wir in Shytomyr an, aber das Abendbrot stand noch für uns bereit, was nach dem kleinen Abenteuer besonders gut schmeckte. Die ukrainische Küche kann ich nur loben. Grundsätzlich gibt es vor jeder Mahlzeit einen wohl schmeckenden frischen Salat. Und nie verließen wir ohne ein Dessert verschiedenster Art den Tisch.

Unser Führer am nächsten Tag, Freitag, war wieder ein Germanist der dortigen Universität, der Brecht- und Biermannspezialist. Er zeigte uns sein Brechtarchiv in einer Schule, das ein entfernter Bekannter von mir mit eingerichtet hat. Hier in dieser Stadt wurde der Pianist Swjatoslav Richter geboren, ein Russlanddeutscher, und der polnische Dichter und Auschwitzüberlebende Tadeusz Borowski. Michail Bulgakov, dessen Schwester in Shytomyr lebte, hat hier seinen Roman „Die weiße Garde“ geschrieben, ein Buch, das ich mehrmals gelesen habe. Die Stadt wurde immer von vielen Völkerschaften bewohnt, die manchmal friedlich, manchmal im gegenseitigen Kampf miteinander lebten. Der Großvater von Lenin war in dieser Stadt ein angesehener Arzt, der immer noch verehrt wird, weil er einst dem noch viel mehr verehrten Nationaldichter Schewtschenko das Leben rettete. Obgleich in der Ukraine viele Menschen Schewtschenko heißen, war der Dichter Taras Schewtschenko der bedeutendste dieser Art, und viele nach dem Umsturz beseitigten Lenindenkmäler wurden durch Schewtschenko-Denkmäler ersetzt., wir sahen mehrere.

Die Umgebung von Shytomyr ist sehr waldreich, dementsprechend gibt es wenig Landwirtschaft. Die Stadt liegt an einem Nebenfluss des Dnjepr, am Teteriv, der in Schytomyr eine eindrucksvolle Flusskaskade hat und über den es eine Hängebrücke als Fußgängerbrücke gibt, auf der die Einwohner zum Spazierengehen in die Wälder gehen können. Wir sahen das Naturkundemuseum von außen, das in einer prächtigen Kathedrale untergebracht ist. Eine Kreativstube, in der Kinder zu künstlerischer Arbeit angeleitet werden, und die wir besuchten, gab uns einen kleinen Einblick in das Alltagsleben. Die Synagoge von Schytomyr war zu Sowjetzeiten ein öffentliches Bad. Sie ist inzwischen vollkommen erneuert.

Sonntag, 25. August 2019

Meine Reise in die Ukraine vom 14. bis zum 23. Juni 2019 (Teil 7)

Die nächste Station war für uns die Stadt Uman. Zufällig las ich direkt nach der Reise einen Artikel über Uman im „Stern“, in dem das beschrieben wurde, was wir zuvor gesehen hatten. Vorher, auf der Busfahrt durch „grüne Tunnel“ und über Schlaglöcher machten wir mehrere Male Halt. Wenn wir unsere Spaziergänge machten, holte unser Busfahrer, sofern ein Fluss in Sichtweite war, seine überdimensionierte Angel heraus, eilte zum Fluss und versuchte, einen Fisch zu fangen. Ich erlebte aber nicht, dass ihm das gelang.

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unser Busfahrer bei seiner Lieblingsbeschäftigung

Unsere erste Station war das Dorf Petschora in dem ein Sanatorium ist, ein ganz ansehnliches Gebäude, das im Krieg zu einem KZ-Lager umfunktioniert worden war. Die Juden aus der Bukowina wurden hier getötet, es wurde erzählt, dass als der Winter sehr hart war, konnte man die Leichen nicht beseitigen, und so schichtete man sie, so wie man Holz stapelt, zu einem Turm.

In die Gegenwart zurück holten uns ein paar junge Frauen, die vor einem Bahnübergang standen und Kirschen und Erdbeeren anboten. Der Bus hielt, und wir erleichterten die Mädchen um einen Teil ihrer Ware. Es war doch angenehmer in der Gegenwart zu sein.

Als nächstes hielten wir in Braclav. Hier war die Wirkungsstätte des legendären Rabbi Nachman. Dieser zog später aus Solidarität mit den Juden, die 1768 bei einem Massaker von Kosaken ums Leben gekommenen waren, nach Uman, um sich dort begraben zu lassen. Diese Tatsache führte dazu, dass Uman und nicht Braclav heutzutage Ort einer unglaublichen jüdischen Renaissance wurde – davon später. Für Braclav blieb das Grab des Schülers und Nachfolgers von Rabbi Nachman, nämlich Rabbi Nathan, das auch Glanz über den weitläufigen jüdischen Friedhof von Braclav brachte. Ein Ehepaar dort am Sarkophag mit hebräischem Gebetsbuch war tief im Gebet versunken.

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Grab von Rabbi Nathan in Braclav

Für Uman wurde uns vorausgesagt, dass wir in einem Hotel wohnen werden, das gleichzeitig 150 junge Fußballer beherbergen wird. Wir sahen die Jungs umherwuseln, ich denke es waren Schüler, die in den Ferien zum Trainieren fuhren. Über Nacht herrschte eine vorbildliche Ruhe im Haus.

Samstag, 24. August 2019

Meine Reise in die Ukraine vom 14. bis zum 23. Juni 2019 (Teil 6)

Die ukrainische Reiseleiterin hat uns oft darauf hingewiesen, wie friedlich jetzt die verschiedenen Religionen zusammen leben. Wichtig war es ihr zu betonen, dass es in der Ukraine keinen Antisemitismus gibt. Vor jüdischen Einrichtungen müsste hier keiner Wache halten, wovon wir uns überzeugten. Wir erlebten Franziskanermönche in einer Franziskanerkirche, die hauptsächlich von Polen besucht wird. Die römisch Katholischen haben wenige Mitglieder, die aber außerordentlich eifrig im Kirchenbesuch sind, so dass oft 3 Gottesdienste am Sonntag stattfinden. Wir hörten, dass auf der Klosterkirche der Franziskaner eine Jesusfigur steht, die die Sowjets zerstören wollten, und Juden hielten „Jesus“ die Sowjetzeit über bei sich versteckt, bis er nach dem Umbruch wieder ans Tages-licht durfte. Die Franziskaner haben jüdische Sterne in ihren Kirchenbänken eingeschnitzt. Auch retteten sie während der deutschen Besatzung mehrere Gegenstände aus der Synagoge.

Wir sprachen mit Juden aus den hiesigen Gemeinden und sahen chassidische Juden aus dem Ausland. Es hätte mich interessiert, welche Berührungspunkte die heutigen ukrainischen Juden mit den auf uns folkloristisch wirkenden Chassiden haben, die alte jüdische Traditionen wie Singen, Tanzen, Rabbinerverehrung wieder beleben. Das erfuhr ich nicht. Ein paar Geheimnisse ließ uns die Ukraine. Orthodoxe und Orthodoxes sahen wir viel. Hierbei ist interessant, dass es zwei rivalisierende orthodoxe Strömungen gibt, die einen halten sich strikt an die Zentrale der Orthodoxie – Moskau. Die anderen lehnen alles Russische ab und werben darum, dass sich in der Ukraine eine eigene Zentrale bildet. Aber ich glaube, die Beziehungen zwischen den Religionen, den religiösen Strömungen unter sich, den Atheisten, die sind zu kompliziert, um sie zu durchschauen. Ob Antisemitismus vorhanden ist, das könnte man erst in Krisenzeiten erkennen, aber als wir da waren, wirkte die Ukraine obwohl sie im Kriegszustand ist, außerordentlich friedlich. Nur vor dem Bahnhof Kiew sahen wir junge Männer in Uniform, die wahrscheinlich an die Front abfuhren.

Das Motto unserer Reise hieß übrigens: „Kosakisch, Chassidisch, Adlig“ Unter „Adlig“ waren die Spuren der Polen zu verstehen, die über lange Zeit Besatzungsmacht in der Ukraine waren, und deren Oberschicht, die Adligen, auf Burgen und Herrensitzen die Macht ausübte.

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heutiges Bild aus dem jüdischen "Schtetl" Shagorod

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alte Synagoge von Shagorod im heutigen Zustand

Auf den jüdischen Spuren bewegte sich die Reisegruppe bewusst, aber ich glaube, man könnte sich einige Wochen in der Ukraine aufhalten, ohne Jüdisches zu entdecken. Wir aber sahen diese Spuren an diesem Nachmittag in einer Straße des Städtchen Shagorod, das uns als „malerisches ehemaliges Schtetl“ vorgestellt wurde. Nun, es war eine normale Dorfstraße, aber wahrscheinlich standen dort besonders viele altertümliche Häuser. Die Straße wurde früher vollständig von Juden bewohnt und soll sogar Hauptstraße von Shagorod gewesen sein. Vielleicht war der Baustil auch etwas anders als in rein ukrainischen Straßen. Ohne seine Bewohner ist es kein Schtetl mehr, bzw man musste viel Vorstellungskraft aufbringen und viele Geschichten aus dem Schtetl gelesen haben (für die folkloristischen Freunde des Schtels wäre das wohl ein Besuch bei „Anatevka“), trotzdem war es eine emotionale Begegnung. Vielleicht auch, weil die Straße sich nicht folkloristisch darstellte. Es gibt immer noch eine kleine jüdische Gemeinde in Shagorod. Das Schicksal der Synagoge ist beispielhaft: Als einmal die Tataren/Türken das Land besetzten, wurde sie zur Moschee, sie war auch schon einmal Schule und Gericht. Vor dem Krieg wurde sie von den Sowjets als Getreidelager umfunktioniert, die deutsche Besatzung überstand das Gebäude, um anschließend unter den Sowjets als Wein- und Saftfabrik zu fungieren. Nach dem Umbruch wollte eine Firma dort weiter Wein produzieren, aber die jüdische Gemeinde meldete ihre Ansprüche an und erreichte, dass sie das umfunktionierte Gebäude zurück bekamen und müssen es nun aber Stück für Stück selbst wieder in Stand setzen.

In Shagorod besuchten wir eine kleine Redaktion einer privaten Wochenzeitung. Die Zeitung hat eine Auflage von 3000 Stück und hat die Intention, das Besondere im Alltäglichen zu finden und den Menschen nahe zu bringen. Weiterhin lernten wir ein Haus kennen, in dem Kinder mit Behinderung leben und gefördert werden, kennen, eine Einrichtung die vom Kolpingwerk betrieben wird. Die Leiterin erzählte, wie es zur Gründung des Hauses kam. Wir sahen Kinder im Rollstuhl sitzend, und ein Junge sagte fröhlich einige englische Worte zu mir. Gerade war eine kleine Gruppe Deutscher aus Czernovitz (?) angekommen, die Hilfsgüter brachte. Vorher, in Tarnopol, hatte ich schon einen Rot-Kreuz-Wagen gesehen, ein Hilfstransport aus dem Emsland. „Das machen wir schon seit 25 Jahren“, sagte mir der Fahrer.
/Fortsetzung folgt)

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