Montag, 20. Juli 2020

Neues von Tuvia Tenenbom: „Allein unter Briten“ (Teil 1)

Wieder flatterte mir ein neues „Allein“-Buch von Tuvia Tenenbom in´s Haus. Diesmal hatte sich Tuvia allein unter die Briten begeben. Mehrmals war ich privat in Großbritannien und habe deshalb einen persönlichen Eindruck von dem Land und seinen Leuten, und ich wollte meine eigenen Eindrücke mit denen Tuvias vergleichen. Tuvia hielt sich im Jahr 2018 für sechs Monate in Großbritannien und Irland auf, d.h. der Titel des Buches ist wieder irreführend, denn gerade die Unterschiede der verschiedenen Landsleute bringen Leben in das Buch. Seine Reise beginnt in Irland, er ist folglich unter Iren, dann wechselt er nach Nordirland, nach Schottland, England und Wales.

Tuvias war bei seinem Aufenthalt hauptsächlich am Theater interessiert, da er selbst Regisseur und Theaterleiter ist und eine hohe Meinung über die britische Theaterkultur hat. Ganz besonders war er – wie immer – an den Menschen, an ihren Meinungen zu gesellschaftlichen Themen interessiert und ging von der Vorstellung aus, dass über nichts anderes als über den damals bevorstehenden Brexit die Rede sein wird. Wie immer benutzte Tuvia den Kunstgriff, bei seinen Gesprächen mit Menschen in verschiedene Rollen zu schlüpfen, wobei ihm die Beherrschung der arabischen Sprache zugute kam, wenn er mit Menschen mit arabischem Hintergrund sprach. Manchmal verbarg er seine jüdische Herkunft, oft gab er sich als deutscher Journalist aus. Sein Rollenwechsel wird ihm ab und zu vorgeworfen, doch ich würde darauf erwidern: Wie kommt es, dass Menschen anders reagieren und sprechen, wenn sie wissen, dass sie einen Juden als Gesprächspartner haben oder eben auch nicht? Sagt das nicht eher etwas über die entsprechenden Menschen aus?

Was Tuvia nicht erwartete, war dass er auf relativ wenig Interesse am Brexit traf, dafür eine allgemein verbreitete Empathie für die „Palästinenserfrage“ (weniger für Palästinenser, denn von denen war wenig bekannt), die mehr oder weniger Antisemitismus einschloss. Gerade in diesen Monaten eskalierten die Vorwürfe an den Labour Vorsitzenden Jeremy Corbyn, der wegen seines antisemitischen Verhaltens angegriffen wurde. Tuvia ließ keine Gelegenheit aus, sich bei englischen Parlamentariern, Journalisten und Mitgliedern der jüdischen Gemeinden darüber zu informieren. Tuvias Kontaktfreudigkeit sowie seine Vorliebe für gutes Essen bringt ihn mit vielen Menschen verschiedenster Art zusammen, denn wo begegnet man den Menschen, wenn nicht im Pub oder im Restaurant? In diesem Buch gibt es eine künstlerische Besonderheit: seinen unsichtbaren Begleiter, einen Adler, der bei besonderen Gelegenheiten auftaucht, ihn ermutigt und ihm den Weg zum nächsten Abenteuer weist.
/Fortsetzung folgt)

Sonntag, 12. Juli 2020

Gedanken über das Kaffeekochen

Neulich unterhielt ich mich mit einem Verwandten, der sich in seiner beruflichen Laufbahn verbessert hatte. Von einem deutschlandweiten Konzern war er zu einem Weltkonzern gewechselt. Unsere Unterhaltung war denkbar simpel. Da ich weiß, dass in Büros das Kaffeetrinken eine große Rolle spielt, fragte ich ihn, wie man es im neuen Betrieb mit dem Kaffeetrinken halte, ob das Kaffeetrinken auch hier wichtig sei und ob sie auch so eine gute Kaffeemaschine hätten, wie in dem alten. „Oh ja, das Kaffeetrinken spielt auch eine Rolle, manche haben auch etwas daran auszusetzen, aber sie meckern wirklich auf hohem Niveau“. „Wieso, wie ist denn das Niveau, wie geht das zu?“, fragte ich. Er erzählte, dass man sich jetzt, in dem Weltkonzern, nicht mehr um das Kaffeekochen und das Einräumen in die Spülmaschinen kümmern müsse, weil es auf jeder Etage einen Kaffeeservice gibt, der sich um alles kümmert.

Da ich in die Welt der Mitarbeiter in Spitzentechnologie normalerweise keinen Einblick habe, fand ich die Tatsache des Kaffeeservices interessant. Also: selbst beim Kaffeekochen sind die Hierarchien geordnet. Je wirtschaftsträchtiger der Betrieb, desto größer die Annehmlichkeiten für die Mitarbeiter. Ich schätze, das wird in allen anderen Bereichen auch so sein, bis hin zur Vergütung. Das ist auch einsichtig. Je „höhergewertet“ die Firma, desto mehr ist man bemüht, die Angestellten bei Laune zu halten, damit die Spezialisten bleiben. Ich glaube, es gibt noch einen anderen Grund für den bequemen Kaffeeservice. In der Gesellschaft gibt es ungeschriebene Gesetze, die fast jeder irgendwie verinnerlicht hat: wer was wo und wie er etwas macht und unter welchen Umständen er dementsprechend lebt. Es wäre sicher unter der Würde eines Weltkonzerns, wenn die Angestellten sich dort selbst den Kaffee zubereiten müssten.

Donnerstag, 2. Juli 2020

Alte Geschichten

Gestern saßen wir mit einem Freund zusammen und sprachen von früheren Zeiten. Wir mussten uns bewusst machen, dass er eine Generation jünger ist als wir, und dass er unsere Berichte nicht als gleichwertig ansah, sondern als Berichte der Älteren. Was haben wir nicht alles im Kommunismus erlebt, und was haben wir indirekt durch die Erzählungen der Mitmenschen miterleben können! Ich denke sogar, unsere Erlebnisse wären interessant, aber interessieren sie jemanden?

Ich erzählte gestern dem Freund., wie ich den Spruch: „Der Verbrecher kommt immer einmal an den Ort seiner Tat zurück“. zweimal erlebt habe. Mein Bruder hatte beim Lesen seiner Stasiakte herausbekommen, dass die belastenden Berichte, die zu seiner Verhaftung geführt hatten, von B. gekommen waren. „Pongo“, sein treuer Kumpel, gutmütig und unzuverlässig. Um die Berichte ging es wahrscheinlich gar nicht so, denn meinen Bruder hätte man sicher auf irgendeine Weise sowieso in den Westen katapultiert - renitent, wie er war, aber diese Berichte waren eben der Anlass, um ihn vor´s Gericht zerren zu können wegen: Fluchtabsichten. Genau um diese Zeit, als mein Bruder schon von den Spitzelberichten wusste, wir dementsprechend auch, tauchte B. in meiner Werkstatt auf. B. tat so, als wolle er etwas bei mir bestellen, er hatte gerade eine neue Frau, mit der er sich einrichten wollte. (Später erlebte ich ihn noch mit einer weiteren neuen Frau). Ebenso wie ich es schon einmal bei einem ominösen Besucher erlebt hatte, wurde die Bestellung nicht konkretisiert, sondern nur angedeutet. Ich ließ mir mit keiner Miene etwas anmerken, weil mir die Sache sowieso egal war, und ich die Geschichte eher lächerlich fand.

Einige Jahre später hatte ich ein Déjavu. Mich besuchte mein früherer Klassenkamerad G. Der war ganz früher bei der Armee, dann war er irgendwie in der Stadtverwaltung, Abteilung Inneres, in Wismar gelandet, und hatte bei einem Klassentreffen damit angegeben, dass er über alles, was in Wismar geschieht, Bescheid weiß. Ebenso wie damals B., empfing ich G. dann auch freundlich, plauderte mit ihm, und ließ mir wirklich nichts anmerken, schon weil mir der Grund seines Besuchs erst hinterher einfiel: In Wismar war ja mein anderer Bruder vor der Wende Pfarrer gewesen, hatte da allerhand Spektakuläres veranstaltet, schließlich eine Amerikanerin unter großer Teilnahme der Bevölkerung geheiratet (der Marktplatz vor dem Standesamt war brechend voll, sicher 1000 Leute, die einfach nur „Anteil nahmen“ (wieviel davon von der Stasi waren, ist nicht zu ermitteln), und DDR-Fähnchen und US-Fähnchen schwenkten.

Jedenfalls hatte der G. sicher auch seinen Anteil an der Bespitzelung meines Bruders. Dieser bekam nach der Wende sogar Fotos, von Aufpassern, wie sie in einem Nachbarhaus auf ihn lauern, in die Hand. Als ich später über die Angelegenheit nachdachte, wunderte ich mich: So ganz justiziabel waren ihre Taten wohl nicht. Mich interessierten sie gar nicht. Aber irgendwie muss es doch in den Menschen innerlich arbeiten, sie fühlen sich unwohl, und wollen irgendwie heraus bekommen, welche Einstellung ihre früheren „Opfer“, bzw. ihre Angehörigen zu ihnen haben. Besucht haben beide mich nie mehr

Sonntag, 14. Juni 2020

Pfingsten in Vorpommern (Teil IV - Ende)

Dorf-am-Trebel

Zur letzten Erkundung hielten wir in einem kleinen Straßendorf an einem kleinen Kirchlein. Es sah aus, als wäre es schon nicht mehr in Betrieb. Das Kuriose an diesem Dorf war, dass weder Häuser noch Kirche ein Lebenszeichen von sich gaben, und wenn man nur 3 km weiter fuhr, war man auf der Autobahn. Zum Abschied grüßte ein überdimensionaler Heldenstein auf dem Kirchplatz: Mit einem Relief eines Stahlhelmträgers und der Aufschrift: „Den Gefallenen zur Ehr, den Lebenden zur Lehr! Weltkrieg 1914-1918 und 1939-1945“

Ein „normaler“ Heldenstein auf einem „normalen“ Kirchenplätzchen. Man könnte darüber nachdenken, warum diese Heldensteine ausgerechnet auf den Kirchplätzen stehen und nicht vielleicht auf einem Dorfplatz. Man könnte auch überlegen, warum Menschen gerade geehrt sind, oder ihnen das ewige Leben versprochen wird, oder nicht von der Liebe Christus geschieden werden können, weil sie im Krieg zu Tode kamen. Was sie als Soldaten gemacht haben, zählt überhaupt nicht, sondern einfach die Tatsache, dass sie in Kriegen die mit unzähligen Toten und mit unzähligen Kriegsverbrechen verbunden waren, gefallen sind, erhebt sie über normale, ebenfalls sterbliche Menschen. Mehrmals habe ich an Pfarrer und Kirchengemeinden geschrieben und um eine Erklärung dafür gebeten, aber eine Antwort bekam ich nie.

Zum Glück war der Tag in vieler Hinsicht erlebnisreich, hätten wir ausschließlich in Kirchen den „Geist des Lebens“ erkundet, dann hätten wir feststellen müssen, dass wir kaum dem Geist des Lebens begegnet sind, umso mehr dem Geist der Erstarrung und des Todeskultes.

Dienstag, 9. Juni 2020

Pfingsten in Vorpommern (Teil III)

Der nächste Halt galt einem kleinen Städtchen, so eins, wie man es früher als Marktflecken bezeichnete. Aus den umliegenden Dörfern fuhren damals die Menschen mit Kleinbahn und Bus dorthin zum Einkaufen. Die Stadt hat eine wunderbare Lage, weit über eine Ebene zu sehen, ist sie auf einer Art Tell gelegen, 2 alte Stadttore und eine schlichte, sehr große Kirche in Backsteingotik prägen die Silhouette. Die Struktur des Städtchens ist so schön, dass sie nach der Wende zur Modellstadt erklärt wurde und besondere städtebauliche Förderung genoss. So begeistert ich immer wieder von dem Städtchen bin, ebenso deprimiert bin ich jedes mal wenn ich es verlasse. Die Stadt ist tot. Mehrmals durchfuhr ich sie in ihrer ganzen Länge und sah nicht einen einzigen Menschen auf der Straße. So ein leeres, verlassenes Städtchen kann man sich gar nicht vorstellen. Sicher führt die Stadt im Verborgenen auch ein Eigenleben, man müsste sich länger dort aufhalten, um dieses zu entdecken.

St-Thomas

Dafür hielten wir nicht lange genug. Wir parkten auf dem vor Kurzem für ca. 100 000 € sanierten Kirchenplatz. Vor der Sanierung war der Kirchenplatz ein lauschiger Ort, der im Einklang mit der gotischen Backsteinkirche war. Jetzt war der Kirchenplatz ein von stadtarchitektonischer „Meisterhand“ gestalteter fremder Platz, der nichts mit der Kirche gemeinsam hat. Verschiedene Pflasterungen edler Art gab es und Stelen, die zu nichts taugten. Die in coronamäßigen Abständen gereihten Würfel sollten wohl Sitzgelegenheiten sein. Ein riesiges metallenes „Kunstwerk“ bildete das Ende des Platzes. Zu Glück war die Bezeichnung des Kunstwerks mitgeliefert, es hieß „Der Bassist“. Leider bin ich nicht bibelkundig genug, um mich an einen Bassisten aus der Bibel zu erinnern, mir kam nur König David mit der Harfe in den Sinn, vielleicht hatte eine Verwechslung der Musikinstrumente vorgelegen. Mit einigem Entsetzen stellten wir fest, dass wir gerade zuvor das idyllische Atelier des Künstlers besucht hatten, auf dem sehr schöne Kunstwerke zu sehen waren.

Ich konnte mir nur vorstellen, dass dieser „Bassist“ aus dem Fundus des Künstlers stammte von Kunstwerken, die er loswerden wollte. Dass der „Bassist“ wirklich Kunst war, konnte man an dem daneben aufgestellten Schild ersehen:

18
"Das Kunstwerk ist kein Spielgerät"

Nun ist der Bassist so stabil, dass kein kletterndes Kind ihm etwas zuleide tuen kann, möglicherweise hat diese drohende Aufschrift mit Sicherheitsvorschriften zu tun.
Ich dachte, es wäre wahrscheinlich wirklich sinnvoller gewesen, hier einige nette Spielgeräte aufzustellen, und eine Atmosphäre zu schaffen, wo Kinder sich wohl fühlen. Die Stadt macht einen Eindruck, dass sie um jedes einzelne Kind ringen sollte, damit Kirchengemeinde und Stadt eine Zukunft haben. Wenn an dieser Stelle zu Pfingsten ein Geist walten sollte, dann könnte man ihn als Geist der Absurdität bezeichnen.

Samstag, 6. Juni 2020

Pfingsten in Vorpommern (Teil II)

Wir kamen in ein schönes Dorf. Da es nicht zerschnitten von einer Durchgangsstraße war, gruppierten sich die gut erhaltenen Bauernhäuser rund um die Kirche, die mitten im Dorf stand. Den gepflegten Friedhof prägte eine mächtige Linde, die in schönstem Grün war.

Linde-Bisdorf

Trotz wieder geschlossener Kirche waltete hier der Geist, es war aber ein anderer als der Heilige Geist. Ein modernes, künstlerisch gestaltetes Kriegsdenkmal ließ die Gedanken auf Kriege richten. Ganz genau konnten wir es nicht herauszufinden. Es war nicht vermerkt, dass die vielen Männernamen, geordnet nach verschiedenen Gemeinden rundherum, Namen von im Krieg gefallen Soldaten sein sollten, man ahnte es aber. Ob erster oder zweiter Weltkrieg? Wohl beide Kriege, wie man anhand der Namen vermutete, die teilweise sehr altertümlich und teilweise weniger altertümlich klangen.

Krieger-Bisdorf2

Zwei ums Leben gekommene "namenlose" landwirtschaftliche Arbeiter sind auf einer Stele aufgeführt. Ob das etwa Menschen aus dem Dorf waren, die im Ausland Landwirtschaft betrieben hatten, so wie die anderen dort wohl den Krieg betrieben hatten? Oder etwa Landarbeiter, - woher auch immer -, die im Ort gearbeitet hatten? Wie mögen sie ums Leben gekommen sein? Es mutet befremdlich an, dass, alle Männer mit Namen verzeichnet die Landarbeiter dagegen als „namenlos“ aufgeführt waren. Entweder hat man sich nicht die Mühe gemacht, ihre Namen zu erforschen oder man hielt es nicht für Wert, etwa fremde Namen unter die der Dorfbewohner zu mischen.
Kurz gesagt: Die Gedenkstätte ließ viel Raum für Phantasie.

Egal, ob Namensinhaber und Namenlose, sie standen alle unter den gleichen Bibelversen:

„Lass dich nicht von Bösem überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“

„Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“

Die Bibelstellen könnte man auf viele Weisen interpretieren, doch die Mühe nahmen wir uns nicht, denn es warteten weitere Künstlerquartiere auf uns. Im gleichen Dorf gab es einen Keramiker, der ansonsten Keramiken dieser Art herstellte:

Kunst-Bisdorf
Es ist zu hoffen, dass Namensplatten und Keramikfiguren des Kriegerdenkmals ihm einen Verdienst eingebracht haben.


(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 4. Juni 2020

Pfingsten in Vorpommern

Der Pfingstausflug gilt traditionell der Kunst und der schönen Landschaft Vorpommerns. Morgens im Radio war aus einem Sender der Pfingstvers zu hören: „Komm, oh komm, du Geist des Lebens……“. Warum also nicht auch noch außer Kunst und Landschaft, sich den kleinen und größeren Kirchen widmen und an Pfingsten zu erleben, wie es mit dem „Geist des Lebens“ an einem Pfingstsonntag aussieht, und was darunter zu verstehen ist.

Wir beschlossen, auf dem Weg auch an Kirchen zu halten, an denen wir vorbeifuhren, so wie es sich gerade ergibt. Wir hielten in einem Dorf, in einem sehr kleinen Dorf, in einer kleinen Kleinstadt und in einer 12 000-Einwohnerstadt, die lange Zeit Kreisstadt war. Um es vorweg zu sagen: Nicht eine einzige der Kirchen war geöffnet. Der Geist des Lebens hatte möglicherweise vormittags noch gewaltet, als wir nach 12 Uhr dort vorbeikamen, war nichts mehr vom Geist des Lebens zu spüren. Man kann sagen, er hatte sich verflüchtigt. Wohin? Vielleicht in die Künstlerquartiere, in denen es unterhaltsam und lebendig zuging.

Turm-Demmin

Die erste Kirche war die Hauptkirche einer Probstei. Die Türen waren fest verschlossen, irgendwo erfuhr man, dass man die Kirche an vier Tagen der Woche für drei Stunden besichtigen kann. Leider war gerade Pfingstsonntag, der nicht zu Tagen der Besichtigung oder der inneren Einkehr gehörte. Ansonsten wirkte rundherum alles ausgestorben, auf pfingstlichen Schmuck, in meiner Erinnerung sind es Birken, hatte man verzichtet, vielleicht wollte man die Umwelt schonen. Dafür zierte die Kirche ein gelbes Banner mit der Aufschrift:

Banner-Demmin

"Gott hat uns nicht den Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit" - "Hoffnungsläuten täglich um 12 Uhr"

Hoffnung konnten wir nicht mehr schöpfen, 12 Uhr war vorbei. Möglicherweise sollte die Angst vor Corona durch Hoffnung vermindert werden, denn in einem Schaukasten wurde dazu aufgerufen, jeden Abend um 19 Uhr eine Kerze ins Fenster zu stellen und ein Vaterunser zu beten.
(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 28. Mai 2020

Die Mao Bibel

Eines Tages sagte uns ein westdeutscher guter Freund, wie er es für uns bedauert, dass wir nicht im Westen aufwachsen und unsere Jugend genießen konnten. Das Westdeutschland der 70-ger Jahre schien die Maßstäbe für ein gutes Leben gesetzt zu haben.

Ich erinnerte mich, dass ich das damals auch so empfand: was meine Cousins und Cousinen alles lernen und kennenlernen konnten! Sie durften in alle möglichen Länder reisen, in der Schule Bildung genießen, alle Bücher lesen, die sie lesen wollten. Und sie waren nicht – so wie wir -, nur auf die Bücher angewiesen, die sich hierher verirrt hatten, in Waschmittelpackungen versteckt und von Westverwandten geschickt, z.B. Bücher von Solschenizyn und Kopelew. Sie konnten ´revolutionär` und fortschrittlich sein, aufmüpfig, wie man es nannte. Sie konnten ´die Vergangenheit bewältigen´, - so sie wollten -, sie hatten die freie Wahl. (Sehr wunderte ich mich später, als ich mitbekam, dass das Interesse gleichaltriger Westjugendlicher oft darin lag, zu diskutieren, wer zur Beatles- oder wer zur Stones-fraktion gehörte) Aber egal – bei Ost-West Jugendtreffen, die von der Kirche, auf allerhand Arten und Weisen organisiert waren, saßen wir mit ununterbrochen rauchenden Westjugendlichen diskutierend zusammen und bewunderten ihre Eloquenz und ihre Fortschrittlichkeit.

Mit einem fast verschwörerischen Gesichtsausdruck wurde mir bei so einer Gelegenheit einmal ein „ganz besonderes“ Buch in die Hand gedrückt. Es war eine Mao Bibel. Ein rotes Büchlein, in kleinem Format, nicht besonders dick, aber auf feinstem Papier, so wie manche „richtige“ Bibeln, gedruckt. Später schaute ich hinein, las einige Passagen, die mir einfach nur lächerlich vorkamen, und dachte, das wäre ein Scherz gewesen.

Später hörte und las ich, dass in manchen Kreisen diese Mao Bibel sehr ernst genommen wurde, sie galt, ebenso wie das bekannte Konterfei von Ché Guevara zum Kennzeichen eines fortschrittlichen westdeutschen Jugendlichen. Ich nehme an, den Inhalt der besagten Bibel kannte wohl kaum einer, ebenso wie Näheres aus dem Leben Ché Guevaras. Das ist ja auch egal. Meine Bewunderung für eloquente fortschrittliche westdeutsche Jugendliche war dahin. Ebenso wie eine etwaige Sehnsucht, dort aufgewachsen zu sein.

Nachtrag: Als ich dieses Erlebnis einmal meinem Mann erzählte, stellten wir fest, dass er in der Jugend fast identisch das gleiche Erlebnis gehabt hatte. Auch er - im Kommunismus aufgewachsen - hatte so eine Mao Bibel in die Hand bekommen und konnte sich vor Lachen ausschütten als er hörte, dass es im Westen Menschen gibt, die diese als etwas „Großes“ ansahen.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

redigierter Kommentar...
redigierter Kommentar von Herrn wvs (13.06.21): "@...
NeonWilderness - 14. Jun, 22:13
Hm, vielleicht bin/war...
Hm, vielleicht bin/war ich zu sehr in diesen ganzen...
C. Araxe - 6. Jun, 23:16
Von meinen ersten Westreisen...
Worauf ich erst einmal hinaus will, ist eigentlich...
anne.c - 6. Jun, 22:18
Von meinen ersten Westreisen...
Als ich mit dem geräuschlosen Intercity durchs Land...
anne.c - 1. Jun, 14:03
Hysterie Teil 2
Lew Tolstoi "Hadschi Murat" (Kap. 15) : Zar Nikolaus...
anne.c - 20. Mai, 20:03
Hysterie
Meine Definition für Hysterie: „Ein Hysteriker hat...
anne.c - 14. Mai, 22:55
"Niemand hat größere...
Am Sonntag, während ich Obstsalat für meine Familie...
anne.c - 12. Mai, 13:27
Wie zwei verschiedene...
Wie zwei verschiedene Menschen Dasselbe völlig anders...
anne.c - 6. Mai, 19:05
Mal abgesehen davon,...
Mal abgesehen davon, dass die Kritik an dieser Aktion...
C. Araxe - 5. Mai, 19:05
Ein Schülervortrag über...
Vor nicht langer Zeit wurde ich um Hilfe für einen...
anne.c - 5. Mai, 11:48

Links

Suche

 

Status

Online seit 5048 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Jul, 02:02

Disclaimer

Entsprechend dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12.05.1998 gilt für alle Links und Kommentare auf diesem Blog: Ich distanziere mich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller verlinkten Seitenadressen und aller Kommentare, mache mir diese Inhalte nicht zu eigen und übernehme für sie keinerlei Haftung.

Impressum

Anne Cejp
Birkenstr. 13
18374 Zingst

development