Dieses Buch bekam ich geschenkt. Ich hatte in keiner Werbung darüber gelesen, nichts davon gewusst. Auch den Namen Ari Rath hatte ich nie gehört. So vertiefte ich mich in dieses Buch und lernte nicht nur eine interessante jüdische Biografie kennen, sondern bekam ein farbiges, plastisches Bild über den Beginn der Nazizeit in Österreich, über die Jugendaliyah (Einwanderung in Palästina), über die Gründung und den Aufbau des Staates Israel. Für Menschen, die Schwierigkeiten mit nüchternen historischen Fakten haben, könnte es fast ein Lehrbuch über Israel sein, denn Aris Raths Leben rankt sich geradezu um die israelische Geschichte.
Ari Rath, geboren 1925, stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Wien. Durch die Drangsalierungen, die die Juden nach dem "Anschluss" 1938 erleiden mussten, wandten er und sein Bruder sich der zionistischen Bewegung zu und konnten noch 1939 nach Palästina emigrieren. Nach Lehrjahren und Arbeit in einem Kibbuz studierte er Zeitgeschichte und Volkswirtschaft und hatte so ein ausgezeichnetes Rüstzeug für den Beruf seines Lebens:
Von 1957 bis 1989 war er Redakteur der "Jerusalem Post", davon viele Jahre Chefredakteur. In diesen Jahren erlebte Israel stürmische und prägende Jahre. Kriege wurden geführt, historische Verträge wurden geschlossen, diplomatische Beziehungen wurden aufgenommen. Bei wichtigen Verhandlungen war Rath dabei. Mit bedeutenden Persönlichkeiten Israels und des Auslandes war er gut bekannt oder sogar befreundet. So wurde er 1965 von seiner Zeitung frei gestellt, um den Wahlkampf von Ben-Gurion zu begleiten.
Das Buch ist in einem nüchternen, informativen Stil geschrieben. Mit sehr vielen Fakten, während Emotionen nur angedeutet sind. So wie man es bei einem Journalisten erwartet. Dafür gelingen ihm lebendige Schilderungen, und hinter allem, was man liest, erkennt man eine starke, unbändige Persönlichkeit..
Natürlich interessierte es mich besonders, was er von den deutschen Politikern, mit denen er in Berührung kam, hält. Um es ehrlich zu sagen: meine eigene Beurteilung der meisten wäre kritischer. Er übergeht aber gewisse Randbemerkungen nicht und übersieht es nicht, wenn er Jahre später in den Protokollen des ersten deutschen Botschafters in Israel hämische Bemerkungen über Juden liest. Als links eingestellter und der Arbeiterpartei verbundener Mensch neigt er dazu, neben jeder Persönlichkeit auch ihr Idealbild zu sehen, das ein Trugbild sein kann. Das trifft auf einen noch nicht lange verstorbenen deutschen Politiker zu, hinter dessen berühmtester Rede, die Ari Rath sehr lobt - wenn man näher hinschaut - sich ein Abgrund auftut. Das zu durchschauen war allerdings nicht Raths Aufgabe, denn er war genug mit den widersprüchlichen Charakteren israelischer Politiker beschäftigt.
So wünsche ich, dass Ari Rath seinen 90. Geburtstag vor wenigen Wochen gebührend gefeiert hat und dass es ihm vergönnt ist, den Aufbruch zum ersehnten Frieden in seiner Heimat noch zu erleben.
anne.c - 7. Feb, 20:52
Am 27.1. vormittags traf eine Schar von etwa 60 Leuten an einem KZ-Mahnmal zusammen. Während des Krieges hatte sich hier ein Außenlager des KZ Ravensbrück befunden. Mehr als zweitausend Menschen waren an diesem Ort zwischen Ende 1943 und Mai 1945 unter schlimmsten Umständen zu Tode gekommen.
An der Stelle, an der ein Teil der ehemaligen Häftlinge bestattet ist, befindet sich heute ein Denkmal mit einem Turm im Stil der 60-ger Jahre, Reliefplatten eines bekannten Bildhauers und Namenstafeln, auf denen die Namen der Getöteten aufgezeichnet sind, die man herausfinden konnte. Wo, wenn nicht hier, sollte die Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz stattfinden?
Als ich zu dieser Veranstaltung eintraf, setzte sich gerade die versammelte Schar in Bewegung, um gemeinsam vom Treffpunkt bis direkt vor das Mahnmal zu schreiten. Klezmer-Musik empfing uns - es war diesmal keine Lifemusik, sondern die Töne kamen aus den Lautsprechern.
Unter den Teilnehmern sah ich Lehrer vom Gymnasium und eine Gruppe von Schülern, Leute aus den Kirchengemeinden, der Heimatverein war vertreten, Anhänger der Linkspartei, ein weiterer Verein, der sich mit der Geschichte dieses Lagers befasst, ein Teil der Stadtverwaltung, und etliche Einzelpersonen. Die letzten waren vielleicht die interessantesten Teilnehmer, weil man über den Grund ihrer Anwesenheit nachdenken konnte. "Wir sind doch so wenige", flüsterte mir eine Frau zu, aber mir schien es, für eine kleine Stadt wäre es eine beachtliche Menge an Menschen. Viele von ihnen treffen nur einmal im Jahr zusammen, eben an dieser Stelle und haben Freude daran, sich wieder zu sehen. So hatte ich das Gefühl, eine Art religiöse Gemeinschaft sei hier zusammen gekommen, und vielleicht lag ich damit gar nicht so ganz daneben.
Die Schülerinnen des Gymnasiums eröffneten die Veranstaltung mit Gedichten von Selma Meerbaum-Eisinger. Der Bürgermeister und die Pastorin hielten eine Rede. Zwischendurch hörte man wieder Musik, und Blumengebinde wurden nieder gelegt. Bald ging man dann wieder auseinander.
Man hört und liest manchmal über solche Veranstaltungen, dass es Pflicht- oder Routineveranstaltungen seien. Aber ich würde es mir nicht anmaßen, etwas solches anderen zu unterstellen. Es weiß jeder für sich allein am besten, ob und warum er an so einem Gedenken teilnimmt. Den Reden, die gehalten wurden, hörte man an, dass die Redner sie selbst verfasst hatten. Die Mädchen aus dem Gymnasium rezitierten die Gedichte so, dass man ihnen ihre Aufregung nur wenig anmerkte, vor diesem Publikum die nicht gerade einfache Thematik darzubringen. Und wenn ich mir die Teilnehmer anschaute und über die Beweggründe ihres Kommens nachdachte, so war mir gleichzeitig klar, wer alles nicht dabei war, sich also nicht der Spekulation über Pflicht oder Routine aussetzte oder aus sonstigen Gründen fernblieb. Mir schien es, so eine "kleine Veranstaltung in der Provinz" hat einen Wert für sich, und ich möchte mir nicht vorstellen, wie es im ganzen Land aussehen würde, wenn es diese "kleinen" Veranstaltungen nicht stattfinden würden.
anne.c - 29. Jan, 09:18
Schon wieder ist ein Jahr vorüber und der Holocaustgedenktag 2015 naht unüberhörbar. Aus meiner Sicht ein unseliger Gedenktag. Viel zu viele fühlen sich bemüßigt, etwas dazu zu sagen, was sie weder interessiert noch wozu sie eine innere Beziehung empfinden.
Ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich zwei verschiedene kirchliche Wochenblätter studierte. Es entstand der Eindruck, als hätte zwischen beiden eine Absprache stattgefunden. Eher wird es aber so sein, dass in beiden der identische deutsche evangelische Geist seine Stimme erhob. Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz waren nämlich beide zu dem Ergebnis gelangt, dass es ungesund seit, zu viel an Auschwitz zu denken. Der eine Artikel trug die große Überschrift: "Zu viel Holocaustgedenken ist nicht gesund" und der zweite hieß: "Ich müsste irgendwie trauriger sein". Unfreiwilligerweise gaben mir in meinen Überlegungen genau diese Artikel Recht.
Man kann über den Holocaust unter den verschiedensten Aspekten nachdenken, und auch die Frage nach dem "zu viel" bzw. "zu ritualisiert" oder was auch immer stellen. Wenn ich mir aber vorstelle, dass die Befreiung des KZ Auschwitz genau 70 Jahre zurück liegt, dann ist es so, dass eine runde Zahl immer eine besondere Aufmerksamkeit bedingt. Die Zahl 70 bedeutet im Judentum sehr viel. Im Allgemeinen bezeichnet man sie als ein Menschenleben. Und kirchliche Zeitungen haben nichts Besseres zu tun, als den Kummer von Jugendlichen auszubreiten, die nicht genügende Traurigkeit in einem KZ oder am Holocaustmahnmal empfinden können. Oder sie vollbringen das Paradoxon, den Lesern zu verkünden, dass das Gedenken, das eben gerade vollzogen wird, ungesund sei.
anne.c - 25. Jan, 18:07
Etwa vor einer Woche drangen aus dem Radio NDR-Kultur, ein paar Worte, die mich aufhorchen ließen. "Darf Satire wirklich alles? - Die NDR-Kulturdebatte." Im Internetprogramm stand, dass dieses die vom NDR ausgestrahlte Hörerdebatte für den Januar sei. Die Hörer wurden aufgefordert, sich schriftlich oder mündlich dazu zu äußern. Von der eigentlichen Debatte habe ich dann nicht mehr viel mitbekommen, aber der Titel war angesichts der Morde in Paris an Redakteuren eines Satiremagazins nachdenkenswert. Es wäre interessant zu erfahren, ob der Titel der Debatte vor oder nach den Morden festgelegt wurde.
Wäre die Frage schon vor den Morden gestellt worden, dann könnte man von einer tragischen Vorahnung sprechen, die sich in der Debatte wieder spiegelt. Wenn der NDR diese Frage allerdings nach den Morden aufs Tapet gebracht hat, dann impliziert er die Überlegung, was mit jemandem zu geschehen hat, der Satire in ungebührlicher Weise strapaziert. Wären die Morde in der Redaktion der Satirezeitung "Charlie Hebdo" also nicht doch zu rechtfertigen? Sind die Ermordeten nicht selber Schuld an ihrer Ermordung?
Dass Satire nicht alles darf, davor schiebt schon das Grundgesetz einen Riegel. Satire darf sicher nicht zur Gewalt oder zu Verbrechen aufrufen. Auf Gewalt und Verbrechen darf sie aber mit ihren Mitteln reagieren. Was ist eine größere Blasphemie: Sich bei Mord, ja bei Massenmord auf den Propheten Mohammed oder auf Allah höchstpersönlich zu berufen oder auf diese Morde mit satirischen Mitteln zu reagieren? Sicher gäbe es keine Karikaturen mit religiösem Inhalt, wenn nicht die Religion Anlass zum Karikieren geben würde. Eine Karikatur dient nicht dazu, jemanden beleidigen zu wollen, sondern sie soll aufzeigen, was hinter dem angeblich Beleidigten steckt. Ob eine Karikatur nun gelungen, geschmackvoll, nicht gelungen oder geschmacklos ist, das ist dann eine ganz andere Frage.
anne.c - 22. Jan, 18:09
Zufällig verbrachte ich die dramatischen Tage, in denen die mörderischen Attentate in Paris stattfanden, im Ausland und hatte wenig Gelegenheit, mich ausführlich darüber zu informieren. Ein paar Fernsehnachrichten, einige Absätze in der Zeitung. Vor allem aber erfuhr ich nichts über die deutsche Variante der Berichterstattung. Lediglich in einer Zeitung gab es einen Artikel über die Reaktion der "ZEIT" auf die Nachricht über die Ermordung der Mitarbeiter der französischen Satirezeitung "Charlie Hebdo". Die "ZEIT"-Redaktion habe verkündet, dass nun nichts mehr so sei wie früher, und dass man nun von einer Zeit davor und danach sprechen müsse. Ebenfalls sei in der "ZEIT" die Parole ausgegeben worden, dass dieser Terror nichts mit dem Islam zu tun habe.
Dabei dachte ich mir: „Ihr merkt aber auch gar nichts. Wer `davor´ sagt: Terror hat nichts mit Islam zu tun und `danach´ ebenso, wonach will er diese selbst erfundene Zeiteinteilung bemessen? Wenn euch wenigstens nun ein Licht aufgegangen wäre! Dass der Terror mit dem Islam zu tun hat, ist doch offensichtlich, wenn die mörderische Hinrichtung unter dem Ruf "allahu akbar" erfolgt.“ Oder wie soll man das sonst verstehen?
Dass damit nicht jeder Muslim unter Generalverdacht gestellt wird, ist selbstverständlich, und ich kann mich auch nicht erinnern, diese Meinung je von einem Menschen gehört zu haben. Wenn aber jeder Muslim eine Meinung zu den Taten seiner Glaubensgenossen hätte und sich damit auseinander setzen würde, dann wäre das schon ein Schritt vorwärts im Zusammenleben vom Muslimen und den anderen. Und wenn diese Überlegungen nicht darin resultierten, dass vor dem Hintergrund einer "abgrundtiefen Beleidigung des Islams" für die darauf folgende Bluttat oft Verständnis angesagt ist, dann wäre eine Chance da, dass Muslime und Nichtmuslime sich zumindest auf eine Plattform für die notwendige Auseinandersetzung verständigen könnten. Ob es so weit kommt, bleibt vorerst fraglich.
anne.c - 15. Jan, 20:07
Pegida ist eine Gruppierung mit der ich überhaupt nichts zu tun habe. Weder kenne ich jemanden, der an den Pegida Aufmärschen teilnimmt, noch jemanden, der an Antipegida Demonstrationen teilnimmt. Auch wohne ich in einem Gebiet, von wo es etwas umständlich wäre, etwa aus Neugierde mich einmal unter diese Leute (ob für oder gegen Pegida) zu mischen.
Umso eifriger studierte ich im Internet, was verschiedene Menschen, deren Meinung für mich wichtig ist, zu Pegida sagen. Und siehe da: die Meinungen sind geteilt. Man könnte fast sagen, die "vernünftigen" Menschen spalteten sich auf, und es gibt zum Teil erbitterte Diskussionen. Trotzdem kristallisierte sich ein Standpunkt heraus, dem ich mich anschließe: So richtige Freude kann kaum jemand an den Pegida Kundgebungen haben, incl. aller Äußerungen, die von ihnen nach Außen dringen. Leider sind unsere Politiker samt den schon fast gleich geschalteten Medien aber nicht in der Lage, sich mit diesen Menschen auseinander zu setzen. Ihre Methode ist: Pegida mit abwertenden Attributen zu bedenken, sie zu diffamieren, sie als keiner Auseinandersetzung wert zu betrachten. Ich habe den Eindruck, es gibt eine Form der Auseinandersetzung, wobei alles, was nicht ins eigene Weltbild passt, einfach abqualifiziert wird. Dass man damit mehr über sich selbst zu erkennen gibt, als über die Gegner, wird in Kauf, ja meist nicht einmal zur Kenntnis genommen. Auch scheint es so zu sein, dass man schon fast als Pegidamitglied angesehen wird, wenn man nur die Meinung äußert, man solle diese Menschen als Menschen zur Kenntnis nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen.
Als Protest gegen Pegida wurde während einer Demonstration die Außenbeleuchtung des Kölner Doms abgeschaltet. Da klafft tatsächlich eine gewaltige Lücke im Bewusstsein unserer Religionsführer. Der Kölner Domkurie macht es nichts aus, dass seit Jahren auf ihrem Domvorplatz übelste antisemitische Hetze betrieben wird, über Pegida hat sie aber schon im Vorherein ein vernichtendes Urteil. Im vergangenen Sommer gab es Demonstrationen in Deutschland während derer Sätze wie: "Juden ins Gas!" gerufen wurden, und das störte weder Domkurie, noch las ich in irgendeinem kirchlichen Presseerzeugnis irgendwelche betrübten Sätze darüber.
Die Unfähigkeit zur Auseinandersetzung, die nicht zur Kenntnisnahme der Realität, sondern ein Schweben "im Luftreich des Traums", das erlebt man in Bezug auf "Pegida" sehr deutlich, und schon bin ich wieder beim Titel meines Blogs.
anne.c - 7. Jan, 18:30
Es ist nur wenige Tage her, ich befand mich in einem Raum mit drei Kindern zwischen 11 und 15 Jahren, zwei Mädchen und ein Junge. Zwei der Kinder hatten einen arabischen Hintergrund, waren aber in Deutschland aufgewachsen. Sie waren unbefangen und fröhlich und blödelten, schwatzen und flirteten vor sich hin, wie es gerade so aus ihnen heraus kam. Plötzlich sagte das eine (arabische) Mädchen: "Stellt euch vor, neulich hat die Erzieherin uns in der Pause eine Kassette mit Weihnachtsmusik angemacht. Sie hat dazu gesagt, dass das ja Musik ohne Text ist, die dürften wir muslimischen Kinder auch hören". Das Mädchen kommentierte weiter: "Ich hätte sie am liebsten gefragt, ob sie nicht weiß, dass wir schon im 21. Jahrhundert angekommen sind!"
Ich dachte: Diese Kinder sind vernünftiger, als die auf indoktrinierende Weise geschulten Erzieherinnen. Warum werden nicht diese "normal" denkenden muslimischen Menschen als Maßstab dafür genommen, wie man mit ihnen umgeht. Statt dessen hält man Ausschau nach den fanatischsten unter ihnen, und setzt diese als das Maß aller Dinge nach denen wir uns zu richten haben.
anne.c - 3. Jan, 09:40
Die Stalingradmadonna wurde 1942 von dem Künstler, Arzt und Pastor Kurt Reuber gezeichnet als er sich im Kessel von Stalingrad, eingeschlossen durch die sowjetische Armee, befand. Um sich und seinen Kameraden das Weihnachtsfest erträglicher zu machen, schuf er diese Zeichnung. Um das Bild herum laufen die Schriftzüge: "1942 Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“.
Die Stalingradmadonna mag für den einzelnen Soldaten, der mit ihr in Berührung kam, eine unmittelbare Bedeutung haben. Wenn aber Jahre später über sie gedichtet und gepredigt wird, so sollten die Umstände beschrieben werde, unter denen sie geschaffen wurde. Dazu gehört nicht nur "das Leid der deutschen Soldaten im Kessel", sondern es gehört dazu, warum diese sich im Kessel befanden und was sie dort vorhatten.
Der Pfarrer Arno Pötzsch hat es tatsächlich in seinem Gedicht erwähnt: Sie standen eidgetreu auf verlornem Posten und stritten bis zum Tod hin für das "Reich", schreibt er in seinem Gedicht "Stalingrad". Warum sie auf verlornem Posten standen, das wissen die Leser zwar immer noch nicht, Arno Pötzsch ist aber einverstanden mit dieser Tatsache und stellt sie nicht in Frage. Die andere Frage: Gab es noch andere Menschen, die hungerten, litten und froren? stellt sich für Arno Pötzsch nicht. Falls sie es gegeben haben sollte, so ward ihnen jedenfalls nicht die Gnade der Madonna teil. Denn, so heißt es in einer Strophe des Gedichtes "Die Mutter Gottes von Stalingrad"
Die Mutter Gottes von Stalingrad
Weilt heut bei den deutschen Soldaten.
Sie hat in der eisigen Winternacht
der russischen Steppe sich aufgemacht,
die Frau und die Mutter voll Gnaden
Die Mutter Gottes von Stalingrad -
so kam sie, die Mutter voll Gnaden,
zu den Ärmsten der Armen in heiliger Nacht,
weil die Mutter noch immer des Ärmsten gedacht,
sie kam zu den deutschen Soldaten.
(Man kann es natürlich auch so sehen, dass die Madonna auch bei anderen Soldaten weilen konnte, denn sie ist allmächtig und allgegenwärtig, was vom Dichter allerdings nicht erwähnt wurde. Doch hält er die deutschen Soldaten für die Ärmsten der Armen.)
Diese Gedichte über die Madonna schrieb Arno Pötzsch 1944 und veröffentlichte sie 1946.
Wie aber sah es mehr als 50 Jahre später aus? Man sollte meinen, in den Jahren sollte sich im Denken der Menschen einiges geändert haben:
Eine Predigt aus dem Jahr 2001 aus einem Ort bei Kassel ist im Internet zu finden, aus der ich einige Sätze zitiere:
In den Bunkern und in den Erdhöhlen leben, sterben, hungern und frieren deutsche Männer. Sie hoffen auf eine Erlösung.
Licht, Leben, Liebe. Was soll ich dazu noch sagen? Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgeben - und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist in uns.
Diese Geborgenheit kann das, weil sie selbst schwere Zeiten durchlebt hat. Damals am Kreuz. Und damals in Stalingrad. Und heute bei uns.
Der Prediger beschreibt die lang zurück liegende Vergangenheit, als wäre sie unmittelbare Gegenwart. Auch für ihn besteht Krieg aus dem Leiden deutscher Soldaten, die sozusagen aus dem Nichts in die Stalingrader Steppe gelangt sind. Und zum zweiten aus der großen Sehnsucht dieser Männer nach Licht, Leben und Liebe. Vielleicht haben die Soldaten zwischendurch auch einmal geschossen. Oder noch schlimmere Dinge getan, von denen man hört, das sie im Krieg getan wurden, die aber in erbaulichen Predigten lieber nicht erwähnt werden. Der Prediger vergisst übrigens in dieser Predigt auch nicht zu erwähnen, dass es heutzutage in Israel und Palästina sehr schlimm ist, was nun gar nichts mit der Madonna gemein hat. Die letzten Sätze der Predigt halte ich für Blasphemie: Er stellt das Sterben am Kreuz, die Schlacht um Stalingrad und unsere heutige (von 2001 ) Situation auf eine Ebene.
Nicht etwa die Madonna oder ihr Schöpfer, aber diejenigen, die diese Madonna dazu benutzen, um dem zweiten Weltkrieg samt seiner Soldaten einen madonnenartigen Schein zu verleihen, tragen zur Erfüllung eines gesellschaftlichen Auftrags bei: die Rolle Deutschlands im Krieg immer weiter herunter zu spielen und es als ein leidendes Opfer zu stilisieren.
anne.c - 30. Dez, 22:42