Dienstag, 9. Mai 2017

Die Vertriebenen

Es gibt Momente, die Auslöser sind für eine sich immer weiter ziehende Gedankenkette. Bis dahin nahm man die Dinge eben so wie sie sind oder wie man sie gehört hat. Für mich so ein auslösender Moment war, als ich mit zwei sudetendeutschen Frauen während einer Israel-Reise an einem Tisch saß. Unsere israelische Reiseleiterin – damals eine Frau von etwa 60 Jahren -, war dem Holocaust entkommen, weil ihre Eltern rechtzeitig aus der damaligen Tschechoslowakei nach Palästina geflohen sind. Die Reisegruppe war von einer Pfarrerin organisiert, demzufolge waren die Teilnehmer größtenteils christlich. Einige Pfarrerehepaare waren dabei, denn die Reise fand in den 90-ger Jahren statt, als es tatsächlich noch Pfarrer gab, die Interesse am „Heiligen Land“ hatten. Mag es auch ein recht zweifelhaftes Interesse gewesen sein.

Die erste sudetendeutsche Frau war also die Reiseleiterin, die andere eine Pfarrfrau, mit der ich gut bekannt bin. Ihr ansonsten glückliches und erfülltes Leben war von dem Trauma der Vertreibung aus den Sudetengebieten 1946 überschattet, und sie ließ keine Gelegenheit aus, darüber zu klagen. Sie war anderen Menschen zugeneigt, und so unterhielt sie sich mit der Reiseleiterin und sprach den für mich legendären Satz aus: „Da haben sie aber Glück gehabt, dass sie rechtzeitig geflohen sind“.

Zuerst dachte ich erst einmal gar nichts, aber ich hatte das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Beide haben doch das gleiche Schicksal erlitten, im Abstand von 8 Jahren. Warum soll es für die eine ein Glück gewesen sein, für die andere die Tragik ihres Lebens? Welches Recht hatte die nichtjüdische Vertriebene der jüdischen Vertriebenen zu sagen, sie hätte Glück gehabt mit ihrem Schicksal. Wollte sie ihr damit gnädig zugestehen, dass sie dadurch vor dem Unglück, in einer Gaskammer erstickt worden zu sein, verschont wurde?

Die gleiche vertriebene Pfarrfrau hat im Lamentieren über ihr Schicksal auch den Satz gesagt: „1946 hätte sie erfahren, dass es nicht nur gute Menschen auf der Welt gibt“. Damals, etwas geübter im Argumentieren, antwortete ich, "was denn wohl andere Menschen hätten sagen sollen, die schon vor 1946 erfuhren, dass es nicht nur gute Menschen auf der Welt gibt?" Solche unbotmäßigen Fragen lösten nie etwa eine erbitterte Diskussion aus, sondern nur betretenes Schweigen. Und ich hütete mich, weiter zu bohren, waren es doch immer Menschen, die ich gern hatte und von denen ich im Leben Gutes erfahren habe.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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